Kopps Restaurant & Bar - ein Nachruf

 

Kopps Restaurant & Bar (Berlin Mitte)

 

Es folgt ein Schriftstück ohne durchritualisierte Wurstauswahl.

 

Dieser Text könnte mit einem zotigen Hieb gegen fleischlose Kost von einem Jochen aus Rüdesheim beginnen, dessen Schreckensbleiche das gastronomische Zeitgeschehen unterhaltsam kommentiert, oder damit, weltläufig vorauszusetzen, dass es keinerlei Erklärung mehr bedarf, warum Fine Dining vegan funktioniert.

Obwohl es in Deutschland zum jetzigen Zeitpunkt 390 rein vegane Gastronomiebetriebe gibt (Stand: Januar 2024), drängelt sich mir neben dem Kopps in Berlin nur das Oukan in den Frontallappen, was letztere These abschwächt, während der Tatbestand, dass sich Jochen wohlmöglich trotz guter Argumente weiterhin über die tierfreie Ernährung der Klimahipster echauffieren würde, erstere ins Abseits befördert.

 

Ich beginne den Text also vorzugsweise mit der Protagonistin und die heißt Zita Sandór.

 

Das Team

Zita kommt mit zarten 30 Jahren, einer Auszeichnung der Budapester Gundel Károly Vocational Catering School und Londoner 3-Stern-Erfahrung ins Kopps. Seit 2022 nennt sie das vegane Berliner Fine-Dining-Restaurant ihre professionelle Heimat und postierte sich mit ihrem Team direkt eine Rote Haube vom Gault-Millau auf den imaginären Kaminsims. Zita strahlt eine konzentrierte Akribie aus und wird ganz zart, wenn sie von ihrem Team erzählt, das hälftig aus kulinarischen Turbo-Bräuten und sanftmütigen Gastro-Buben besteht. Die Tatsache, dass ihr im Büro schlummernder Hund das einzige Tier ist, das den Weg in das unangestrengte Lokal am Koppenplatz findet, verblasst neben der geschmacklichen Explosionskraft ihrer Tellersprache zur Nebensächlichkeit.

 

Auf dem Teller

Wir freuen uns auf 5 Gänge aus Zitas gemüsigem Brachialgenre, die zeigen, dass vegane Küche mehr kann als Gurken fermentieren. Wir werden abgeholt vom Hefeteiggruß aus der Küche mit erfrischend ploppendem Algenkaviar. Das Piroschki wurde mit Weißkohlfüllung ausgestopft und verweist umamig dicht auf die geschmackliche Wuchtigkeit der Folgegänge.

Erster Gang: Kürbis wird auf ein Buchweizentartelette aufgebahrt und mit Hauptgangs-Wumms in Tomatenwasser-Velouté ertränkt; hier überrascht die intensive Schärfe der Chilipaste im Nachgang, was in Anwesenheit der knalligen Pilz-Consommé des zweiten Tellers beinahe in Vergessenheit gerät. In diesem Gericht steckt Umami für drei Spanferkel, das behaglich von Kräuternoten ausbalanciert wird.

Das nachhaltigkeits-zertifizierte Restaurant beweist neben verkürzten Lieferwegen, baulichen Klimaneutralitätsbestrebungen und saisonaler Produktorientierung seine From-Leaf-to-Root-Rigorosität konsequent auf der Keramik: woanders als Abfall in der Biotonne landend, finden sich die Korianderstile hier im Weizendumpling, während die Schalen des Kartoffel-Gangs als Jus eingekocht werden und schließlich final zu Kartoffelschaum verarbeitet werden.

Wem es zuweilen dann doch nach Fleischersatzbestrebungen dürstet, wird auf dem Folgeteller vom Tierkost-Glauben abfallen, denn während Rotkohl mit Main-Bitch-Gebahren auf dem Marmeladen-Sandwich thront, flankiert eine Foie Gras aus Spitzpaprika und Walnuss, die jedwedes Metzger-Gemüt erweichen und erlaubterweise unser Tischgespräch dominieren wird.

Beschlossen wird der Abend mit einer aromatischen Tonkabohnen-Schoko-Mousse, deren Amarena-Gel-betupftes Schokoairbrush-Geäst locker den Schöner-Wohnen-Design-Award für’s filigranste Wandornament abjagen würde. Das Kirsch-Mandel-Sorbet verbindet ungetrübt von Beschaffenheitsdifferenzen eine Freundschaft mit dem knackigen Mandel-Kakao-Crumble, was uns gefallsüchtig aus dem Menü verabschiedet.

 

Zitas Küche verzichtet konsequent auf die Gigantomanie in der Produktauswahl, brennt aber ein geschmackliches Stilistik-Feuerwerk ab - inklusive gnadenloser Verwertungslosik -, von dem manch rüpeliger Fleischgang peinlich berührt die nächste Ausfahrt Richtung Betriebskantine nehmen würde.

 

Im Glas

Jannick Stillger. Punkt. Merken Sie sich diesen Namen! Ausrufezeichen. Gehen Sie überall hin, wo er ist und lassen Sie sich sein promilleloses Gebräu beherzt in den Schlund gluckern. Während mancherlei hingepfützte 0-Prozent-Plörre andernorts mitunter in die Spuckflasche gehört, kommen hier nur fein ziselierte Liquores ins alkoholfreie Glas. So erfrischt ein aufgesprudelter Drink aus Orange, Salbei und Curry den ersten Kürbis-Gang, während eine Wassermelonen-Variation mit samtiger Macadamianuss durch initiales Gurken-Aroma zunächst verwirrt, um dann den Pilz-Gang vollmundig zu verlängern.

Das Reiz-Reaktions-Ensemble im Folgeglas verlangt uns Ambiguitätstoleranz ab und erreicht uns als optische Yin-Yang-Koproduktion aus süßlich-warmem Hafercappuccino vom geröstetem Sellerie und weißem Trüffel und einem kalten Preiselbeerschaum mit spitzer Säure.

Die vermeintliche Getränkebegleitung entpuppt sich mittlerweile als non-konformistische Parallelgangfolge und wirbelt alles belastbar Geglaubte  durcheinander. Das Abschlussglas sieht aus wie ein blubbernder Limoncello, steigt uns olfaktorisch allerdings in Form von buttrigem Popcorn in die Nase. Hä?! Nun gut, dann  mal reingeorgelt mit der Brühe, die – schon wieder Hä?! – sich nun als cremig samtiger Milkpunch präsentiert, der seine Schummeloptik durch den Klärungsprozess einer 30-tägigen Keller-Fermentation erhält. Obrigkeitsergebene Ergriffenheit stellt sich ebenso am Tisch ein, wie die Erkenntnis, dass dieses Kopps ein gesetzloser Raum zu sein scheint.

 

Das Ende

Wie würden Sie sich jetzt fühlen, wenn am Ende dieser kulinarischen Oper ein Requiem stünde?

Seit 2011 schrieb der vegane Leuchtturm der Stadt schwarze Zahlen – bis zur Pandemie. Dann begann der Mehrfronten-Kampf gegen Fachkräftemangel, corona-bedingte Rücklagenabschmelzung und Inflation. Ein in letzter Minute abgesprungener Investor, der wieder angepasste Mehrwertsteuersatz und die anstehende Rückzahlung von Corona-Hilfen brechen nun auch der fleischlosen Ikone in der Linienstraße das betriebswirtschaftliche  Genick.

„160 Gäste in unserer 4-Tage-Woche bräuchten wir, 130 sind es“ meint Geschäftsführer Ilhami Terzi. Wie so oft sind es die wenigen Tische, die die überlebensnotwendige Marge ausmachen. Mein fristloser Unterlippen-Schippe-Impuls lässt nur die Hoffnung auf ein spontanes Investment-Wunder übrig und das Vertrauen auf‘s Kick-Ass-Potential von Chefköchin Zita, Barchef Jannick und Restaurantleiter Christian, die mit bissiger Innovationskraft ihre tierfreie Nachhaltigkeitsstrategie verfolgen, in der Stadt bleiben und als Team weitermachen wollen.

 

Und ganz persönlich hoffe ich darauf, Jochen in Anbetracht der zunehmenden Normalisierung fleischloser Küche am zukünftigen Nebentisch verschwörerisch auf seine gelockerten Anspannungsfäustchen zu fistbumpen.

 

Kopps- Restaurant & Bar

 

5 Gänge           100

6 Gänge           120

7 Gänge           135

 

Linienstraße 94

10115 Berlin

Mi-So ab 17.30Uhr

https://kopps-berlin.de/

 

Was Zita Sandór zu sagen hat.

 

 

Willkommen im Freistaat Kreuzberg!

 

Tulus Lotrek (Berlin-Kreuzberg)

 

Spraydose regelt, was Bitchmove snitcht.

Derart wird zumindest zwischen Hasenheide und Urbanstraße auf eine weggeräuberte Auszeichnungsplakette reagiert. Unter dem mit hochpigmentiertem Nitro-Kombinationslack ersetzten Michelinstern in Bluthochdruck-Rot wurde ein „2023“ auf die pittoreske Efeu-umrankte Altbaufassade gekrakelt, was die bereits 2017 eroberte Ehrenbezeigung beurkundet.

Sogar im Angesicht von Straftatbeständen beweisen die beiden geschäftsführenden Schmierfinken Flexibilität und aktenkundige Street-Credibility - wie es sich für Quereinsteigende gehört. Weder Restaurantleitung Ilona Scholl noch Küchenchef Max Strohe, ihr Homeboy in Selbstjustiz, Teller-Game und Privatgemächern, gerieten auf tradiertem Weg in die Spitzen-Gastronomie. Beide kassierten jedoch schon ein Bundesverdienstkreuz für die pandemiebegründete Aktion „Kochen für Helden“, auf die selbige Aufschrift auf dem Fenster des Erdgeschosslokals verweist. Die Initiative erwies sich als Destillat zugewandter Fürsorglichkeit für die Frontliner auf dem Corona-Gefechtsfeld, die nicht nur durch Gratisgerichte aus den Tulus-Lotrek-Vorräten versorgt wurden, sondern auch durch Kühlhausplünderungen angestachelter Kolleg*innen.

 

Liebe Leute!

Mit ähnlich zärtlicher Zupackmentalität wartet die Service-Brigade auf: Eingestellt wird nicht nur nach Kompetenz, sondern vor allem nach Liebreizfaktor. Raumgebende Hierarchien bestimmen die Energie im Team der Lotrekkies, die mit ihren tapetenidentischen Tulus-Trikotagen den Anschein erwecken, Wohlfühlbeauftragte wurden dieserorts wie lukullische Fabelwesen liebevoll aus dem Gemäuer gespuckt. Der Kollektiv-Esprit verortet sich irgendwo zwischen Bällebadbegeisterung für Branchenwissen und Chest-Bump-freier Unaufdringlichkeit.

Allen voran schnippst sich Ilona Scholls Silhouette durch den Gastraum und bildet das Metronom des Abends. Scholl flirtet, federt flummi-esk und filetiert Gänge und Weine verbal bis ins Mark, während sie Melodiefragmente aus den wohltemperierten Lautsprechern sonor mitsummend umkurvt und dabei galant auch noch die Tische. Der Heterogenität im Gastraum begegnet sie hinreichend ausgepolstert mit geistiger Elastizität und treffsicherem Register; und das stets ohne Selbstgefälligkeit oder auswendig gelernte Kellner-Kalauer: Behaglich bettwarme Service-Erotik, die nicht ohne Grund sowohl im Jahr 2017 von den Berliner Meisterköchen als auch 2021 vom Gault Millau in Form der Gastgeberin des Jahres durchgeadelt wurde.

 

Der Austragungsort

Fehlende Großspurigkeit findet sich gleichsam in den Räumlichkeiten der Sterne-Spelunke, auf die in der Fichtestraße 24 lediglich ein altersschwacher Schaukasten mit dezentem Impressum und draufgepapptem „Außenwerbung-nervt-jeden“-Aufkleber verweist. Im Inneren empfängt mich die kuschelige Bohѐme-Variante einer German-Gemütlichkeit-Schankwirtschaft mit deftigem Dielenboden und rustikalen Fellen über der unprätentiösen Holzbestuhlung.

Erst mit zunehmender Annäherung erkenne ich, dass die Namen der Gäste schönschriftig mit Kreide auf die Holztische gemalt wurden. Verzückter Oxytocin-Ausstoß auch beim Schielen auf’s Menükärtchen, das stilecht mit Tulus-Lotrek-Siegel auf dem personalisierten Kuvert an den Platz flattert. Ich notiere: Niedlichkeitsfaktor 10/10 und entscheide mich für das vegetarische Menü mit alkoholfreier Begleitung.

 

Die Verpflegung

Man hätte ja schon bei den Aperos tiefenpsychologisch ausdeuten können, dass hier nicht sanftmütig durch den Abend geschmust wird. Nämlich genau in dem Moment als der Rote-Beete-Macaron mit knalligem Himbeer-Gelee lediglich den Frucht-Teppich ausrollte, um die Sprengkraft des Tapioka-Chips mit seiner protzigen Dashi-Garnele zu hofieren. Kühn für so einen herkömmlichen Donnerstag, Strohe!

Die persönliche Zurückhaltung eines Max Strohe schafft sich ebenso in der Vorspeise in Form fehlender Impulskontrolle seinen Ausgleich. Was als erfrischendes Vielerlei der Tomate beginnt, schreitet abgebrüht mit unscheinbar wirkenden Crackersticks voran, deren Schärfe sich mit Hauptgangsselbstbewusstsein Richtung Zäpfchen prügelt, und endet aufgebrüht als intensiv- besänftigender Tomatentee.  Zugefüttert wird ein Nori-Algen-Cracker mit Wasabi-Wumms, der sich auf der Scoville-Skala vorlaut nach oben drängelt. Für Spektakelverweigerung tritt ein Max Strohe nicht an und ich als Capsaicin-Groupie fühle mich souverän abgespeist.

 

Lauch

Nur noch autoritätsergeben zu nicken, gehört eher zu meinen untypischen Kommunikationstechniken, war jedoch aufgrund der kulinarischen Ergriffenheit durch Gänge wie gehäuteter Erbse auf Parmesan-Eierstich oder Kohlrabi mit rigoros runterreduzierter Sauerkraut-Beurre-Blanc kaum bezwingbar.

Entsprechender Lau(s)changriff im Folgeteller: der kohlige Porree-Pfahl auf der Keramik würde ihn an die Holzbohlen im Marseiller Hafen erinnern, verrät mir Max, der wohnlich wollbemützt und beinahe schüchtern in seinen Baggypants an den Tisch geschlürft kommt. Gäste hätten das bei extremer Hitze verbrannte Gemüse auch schon zurückgehen lassen, aber das müsse eben so, konstatiert er in vorauseilendem Ungehorsam.

Unter’m Tisch knete ich auf meinem imaginären Stressball herum, nehme mir aber fest vor, mich bezüglich des vegetarischen Pendants zu seinem carnivoren Klassiker – der Jakobsmuschel – in Schutz und Schirm des Handwerksmeisters einzurücken. Erstaunlich gut funktioniert das brutzlige Laucharoma mit der anschmiegsamen Creme aus karamellisierten Zwiebeln und dem Käse aus Norwegen, der mit seiner Karamellnote die Süße des Lauchs folgerichtig verlängert.

Beigestellt wird feinste Grütze im Glas: unschuldig promilleloses Wonderleaf-Hydrolat wird mit Fichtenöl im perfekten 30-Grad-Genlabor-Winkel anpipettiert, wodurch sich die Tellerharmonie besonders einfühlsam um das lonesome Kaugirl am Tisch kümmert.

 

Spargel

Der unerwartete Manspreader unter den Gängen war der oftmals einbahnig geglaubte Spargel, der sich zusammen mit umamig eingelegter Morchel und einer Hollandaise aus Amalfizitronen-Miso - ergaunert bei Strohes Fermentationsfreunden aus dem zwangspausierten Merold - traditioneller Tellerlogik und damit seines Sidekick-Images entledigt. Die einzige mehrheitsgesellschaftskompatible Referenz in Anlehnung an das Spiegelei, das man sich nachts um 4Uhr im Suffhunger über jedwedes Impro-Gericht poltert, erreicht mich in Form eines sous-vide gegarten Eigelbs. Das Mindestmaß an Anstand, das Max diesem Teller noch einräumte, ist die Tatsache, dass alles stringent miteinander funktioniert. Im Glas gibt’s eine charmant saftige Riesling-Schummelbrause, die mit ihrer perfekten-aber-wirklich-kurz-vor-Badreiniger Essignote gegen die Herzhaftigkeit des Gangs anmarschiert.

 

Pavlova

Langsam wird’s sperrig im Torso, aber für die Pavlova – für mich bisweilen ein grundverdächtiges sowie durchbeleidigtes Dessert ohne Vorteile - lockere ich beherzt den Krawattenknoten. Sie präsentiert sich ebenso durchschlagend wie die vorangegangen Kreationen, aber dabei feingesichtig durchgeschliffen: der Meringue-Fluff wird mit Himbeere aufgerüscht und führt mit seiner gnadenlosen Gleichzeitigkeit von Estragon und Limette zu spannungsreichen Ambivalenzen auf dem Lait-Ribot-Buttermilcheis. Geschmacklich dicht bedrängt vom Himbeer-Estragon-Öl avanciert er zu meinem kulinarischen Gral des Abends.

 

Hier bin ich Mensch, hier hau ich rein

Dann drängelte sich Müdigkeit in den Abend wie der dicke Onkel ins Familienbild und ich habe jetzt hier auch die Tastatur vollgesabbert, deswegen schließe ich kurz:

Max Strohe tischt auf dem kurzen Dienstweg frankophile Flexibilitätsbestrebungen auf; stets mit rüpelhaft ironischer Distanz zu klassisch-französischen Zitaten, aber eben auch ohne aufgescheuchtes Anklammern an trendhaschendes Tempo. Das Tulus Lotrek ist kulinarischer Safe Space für alle, die es sich nicht in daseinswunden Selbstgewissheiten gemütlich machen wollen, sondern offen für deliziöse Außerplanmäßigkeiten sind. Die Aufnahme ins gastronomische Organigramm sei hiermit aufdringlich empfohlen und was mich angeht:

 

Lotrekkies, ihr dürftet mir ins Essen spucken!

 

Geschmackssinniges, Mai 2023.

 

Appetit auf Zwiegespräch mit Ilona Scholl? Bitte hier entlang: Gespräche.

 

Tulus Lotrek

Fichtestraße 24

10967 Berlin

 

Mo, Do, Fr, Sa, So

18 – 23 Uhr

Ruhetage: Di und Mi

 

Mein Besuch im Tulus Lotrek wurde vom Restaurant unterstützt. Vielen Dank an das warmherzige Team!

 

Herein, wenn's ein Schöngeist ist!

 

Pars (Charlottenburg)

 

Kristiane Kegelmann hat sich das traditionsgesättigte Café Savigny erbeutet, ein Rudel talentierte Köpfe dazugetrommelt und scheinbar mühelos die elegante Stilistik ihrer ikonischen Pars Pralinen in eine puristische Verweilstätte verlängert, in der sich behaglich das Gehirn nullen lässt.

 

Der Ort

 

Das Restaurant Pars bewegt sich irgendwo zwischen Kunsthandwerk und Dienstleistung, zwischen legerem À la Carte-Reingeschlender und cleaner Dinner-Location mit durchkomponierter 6-Gang-Formation. Die minimalistischen Räumlichkeiten haben etwas Klärendes. Je nach Misanthropie-Grad lässt es sich distanzverringernd an der großen Tafel mit Blick auf die offene Küche Platz nehmen oder etwas intimer an kleineren Tischen im Nebenraum. Unter den Design-Funzeln von As a Ceremony erlebe ich Erleuchtung - von sichtbaren Netzanschlusskabeln bis Fassungshülsen - roh und zurückhaltend, ähnlich wie die nachkommenden Gerichte auf der kargen Keramik von Dirk Aleksic.

 

Das Team

 

Und dann steht sie überlebensgroß vor mir; diese markante Person mit den klugen Augen, den Raum mit geräuschloser Präsenz füllend, die Frisur unbändig wie ihre Ideen. Der Prozess ist das Werk - so handhabte Kristiane als bildende Künstlerin bereits ihre Skulpturen. Veränderungsprozesse durch die Interaktion mit den Betrachtenden waren stets gewollt und so stellt auch das frisch geschlüpfte Restaurant ein gemeinschaftliches Projekt dar, das sich stets weiterentwickeln darf. Es geht um aktives Loslassen und passives Einlassen; sie erschuf die Rahmenbedingungen, die nunmehr von anderen Kreativen gefüllt werden:

 

So scannt Sophie Skowronek seismographisch den Gastraum, um bei promilligem Druckabfall zu intervenieren oder – wie in meinem Fall – sturzbegeistert alkoholfreie Aperitifs zu promoten. Ähnlich akribisch geht’s in der Küche zu, in der Alina Jakobsmaier zusammen mit Florian Zeisich ihre geradlinigen Teller ausklüngelt. Alina und Kristiane kennen sich schon aus ihrer Zeit in Wien und haben sich seit jeher nicht aus den Augen verloren. Nachdem Kristiane ihr die Herstellung der Pars Pralinen anvertraute und Alinas charakterfeste Handschrift in pandemiebedingten Pop-Up-Events überzeugte, war die Köchin für das Projekt schnell gefunden.

 

Das Essen

 

Wer sich in der puristischen Teller-Ästhetik eines Julius Ernst oder Otto wohlfühlt, wird sich im Pars behaglich aufgehoben fühlen. Alinas Gänge sind geschmacklich dicht und nah an der Zutat. Man spürt die konspirativ weitergeflüsterten Kontakte von Billy Wagner, der sich für sein Nobelhart & Schmutzig ebenfalls auf Produzent*innen aus der Umgebung verlässt. Das Bio-Gemüse von Grete Peschken darf gleichsam wie die Forelle von 25 Teiche auf der Keramik Platz nehmen, während die aromatische Zwiebelbutter zum saftigen Sauerteig-Brot der Bäckerei Keit vom Erdhof Seewalde stammt.

Ich starte à la Carte mit einer Rote-Beete-Borscht. Die vollmundige Aromatik verrät an dieser Stelle, dass hier nichts zu Tode pestizidiert wurde. Der  geräucherte Quark obenauf und die zarten Dillspitzen ergänzen unaufgeregt. Mehr braucht es nicht, außer vielleicht den alkoholfreien Muri im Glas, der als Kalt-Teeauszug mit geräuchertem Rhabarber und Beeren elegant belebt.

 

Optisches Understatement mit gnadenloser Wirkung auf dem Folgeteller: Protagonist ist hier ein salzig-intensiver Kartoffelrösti, der vom Forellenfilet ohne Brusttrommelwirbel flankiert wird. Dass die Kartoffel hierbei den Fame kassiert, löst bei der Forelle keinerlei Standesdünkel aus. Sie bleibt freundlich, butterzart und be(weih)räuchert behutsam ihren Polysaccharid-Kumpel.

 

Solide Spektakelverweigerung auch im Dessert, dafür treffe ich wiederum auf den vorhersagbaren Qualitätsfanatismus. Aus begründetem Respekt vor fädenziehender Industriezuckersüße beäuge ich die Pavlova skeptisch. Nach dem ersten Löffel rasten die Mundwinkel gemütlich auf Nasiolabialfaltenhöhe ein, denn auch hier findet sich keine Spur von zuckriger Nachspeise. Stattdessen überzeugt eine feingesichtige Collage aus fluffigem Baiser-Knusper mit blank geschlagener Sahne, etwas Säure aus den im letzten Sommer eingelegten Cassis-Beeren und dem Signature-Haselnussmus aus der Pars-Kollektion. Ich habe keine weiteren Fragen, nur die nach der Beschaffungsstrategie der promillelosen Brat-Birne, die im Glas vor mir herumprickelt. Beim Mindful Drinking Club können Rauschgift-Verwehrende die zimtige Kardamom-Prickelbrause auf Birnenbasis erwerben, die an Silvester – wie mir Sophie verrät – auch mal dem Champagner vorgezogen wurde.

 

Die Pars Praline

 

Kristianes kubische Kohlenhydrat-Klunker harrten schon länger auf meiner gastronomischen Agenda aus und nun glänzen vier davon eindrucksvoll wie die Stirn eines stark pubertierenden Jugendlichen auf dem letzten Teller des Abends. Die kantigen Kostbarkeiten sind keine Klischee-Süßigkeit, vielmehr eine Überraschung an Konsistenz und Geschmack, die Menschen durchaus in ihren kulinarischen Erwartungshaltungen zu irritieren vermag. Die herbe Schokoladenhülle ist lediglich formgebende Komponente und der Rübenzucker vom Bio-Hersteller lässt Pars Pralinen mit wenig Süße auskommen, dafür allerdings in epischen Rezepturen aufspielen: vegane Sesam-Birne, Rharbarberblüte-Räucherquark oder das Säurebömbchen der aktuellen und 3-monatig wechselnden Kollektion, das mit einer Ganache aus fermentierter Sojasoße mein Abendessen explosiv beschließt. Ich bin geneigt, sie in mehrlagiger Luftpolsterfolie zu verpacken und für immer aufzuheben, allerdings ist ihre Haltbarkeit auf 1-2 Wochen beschränkt, da auf Konservierungsstoffe bei der Herstellung erwartbar konsequent verzichtet wird. Für den Pralinen-Gang des Menüs werden sie sogar täglich frisch hergestellt.

 

Das Ende

 

Seit ungefähr 10 Minuten prüfe ich mit Pralinenmesser und der Ausdauer einer Chemie-Laborantin den Widerstand des Premium-Konfekts sowie den nicht auflösbaren Widerspruch zwischen Zerstör-Hemmnis und ungeduldigem Probierwillen. Schließlich der kulinarische Abriss nach gleitender Klinge. Zwangsvergrinst und frühversnobbt entscheide ich: Nie wieder Discounter-Trüffel und züngle den karamellig einreduzierten Quittensaft aus der letzten Praline.

 

Geschmackssinniges, Februar 2023.

 

Mehr über Kristiane Kegelmann erfahren? Bitte hier entlang: Gespräche.

 

Pars Restaurant

Grolmanstraße 53

10623 Berlin

 

Di–Sa

17.30 Uhr À la Carte 4 - 17,50

ab 19 Uhr 6 Gänge 95

 

Mein Besuch im Pars wurde vom Restaurant unterstützt. Danke an Kristiane und das sympathische Team.

 

Japanisch-veganes Fine Dining ZEN-siert.

 

Oukan (Berlin-Mitte)

 

Für's Wortspiel schäme ich mich etwas, für die Restaurantauswahl keineswegs.

 

Der Ort

 

Bisschen koksnäsig wirkt die Mitte Berlins hier neben Galerien und durchgestyltem Einzelhandel, als ich durch die unscheinbare Toreinfahrt in die Entrücktheit der Ackerstraße 144 radel‘. Unsicherheit überwiegt, ob dieser kleine Innenhof mit seinen schwarzen Holzverschlägen und der wenig auf Verweildauer setzenden Rückansichts-Nonchalance ein Beweis für meine fehlende Navigationsbegabung ist oder mich tatsächlich zur aktuellen Krönung der Berliner Fine-Dining-Avantgarde führt. Die untergejubelte Krone steckt nicht nur im Namen des Oukan und verweist majestätisch auf das Haupt des Kaisers, auch wir brechen uns keinen Zacken aus selbiger, wenn wir uns auf einen ausschließlich japanisch-veganen Abend bei Martin Müller et al. einlassen.

 

Das Interieur

 

Durch‘s rote Hintertürchen führt uns ein langer, schwarz verspiegelter Flur in ein sichtbetoniertes Lounge-Ensemble. Hier werfen uns Spiegelelemente auf uns selbst zurück und regen im Sinne des Designers zur Selbstreflexion an. Die Kontaktaufnahme mit sich selbst muss nicht unbeschützt absolviert werden, denn die japanischen Tonziegel, die über unseren Köpfen taumeln, gehören traditionell zum Schutzkonzept des Hinterhofjuwels. Angenehm durchdacht hat Architekt und einer der Geschäftsführer Huy Thong Tran Mai Letzteres und knüpft designtechnisch an frühere Projekte wie das Ryong an.

Tran Mais Brutalminimalismus zeigt sich ausgesprochen majestätisch, als wir den Restaurantbereich des Sichtbetontempels betreten. In dem ehemaligen Ballhaus empfängt uns unter eindrucksvoller Deckenhöhe ein 18-jähriger Bonsai. Feste Wurzeln und Lebensenergie symbolisiert der 3 Meter hohe Fotosynthese-Meister und wird entsprechend demütig mit extra für ihn angebrachten Tageslichtstrahlern behelligt. Ein großer Community-Table lädt mittig platziert zu Geselligkeit ein und wird von cleanen Zweiertischen flankiert. Weiter hinten im Raum finden sich intime Separées, in denen sich bis zu 6 Personen umkordelt von akustisch abgrenzenden Seilen zusammenkuscheln können. Wir dürfen besonders nischig in der Krone (da ist sie wieder!) des Gastraums Platz nehmen. Die Kronenform des Zwischenwände-Ensembles offenbart sich erst in der Draufsicht des Bauplans und findet somit als Symbol des Lokals ihre unsichtbare Verlängerung in der Architektur.

Wer sich nicht zurückhalten kann, alles, was an Texturen geboten wird, haptisch zu erforschen, wird sich an den angenehm kühlen, schwarzen Granitplatten bereits wund gestreichelt und sich mit hoher Wahrscheinlichkeit rußige Finger an den geflämmten Holzpanelen geholt haben, die von goldenen Metallstreben gerahmt die Wände der „Krone“ verkleiden. Wer auf die Idee kommt, einen der aus Japan importierten Eichenholzstühle zu entführen, wird aufgrund des eindrucksvollen Gewichts den Heimweg unmöbliert antreten müssen (Interior-Lovers hassen diesen Trick!).

 

Die Verpflegung

 

Vorgestellt hatte ich mir einen Steingutteller mit roher Ur-Möhre, an der dann produktzentriert gemümmelt werden soll, bis die meditative Gleichschaltung erleuchteter Gehirnwellen erreicht ist. Statt asketischer Tempelküche überrascht mich eindrucksvoller Pomp in den Gängen. Die Harmonisierung des Geistes und des Körpergefühls funktioniert zwar ohne tierische Produkte, ohne Industriezucker und Weizenmehl sowie saisonal-regional, aber asketisch präsentiert sich hier keiner der Teller. Lediglich die Regeln der japanischen Shōjin Ryōri-Tradition mit ihren fünf Farben (weiß, schwarz, rot, grün und gelb müssen sich im Menü wiederfinden), den fünf Geschmacksrichtungen und den fünf Zubereitungsarten, die von roh über gedämpft, geschmort, gekocht bis hin zu gebraten changieren, werden von Küchendirektor Martin Müller im Menü berücksichtigt und von Zen-Mönchen, mit denen das Team zusammenarbeitet, abgenickt. Auch der Trend zur alkoholfreien Getränkebegleitung wird in Form eines Tea-Pairings virtuos umgesetzt. Zur Verantwortung gezogen werden kann hierfür Tee-Sommelière Joyce von Beuningen, die jeden Gang mit bedächtig ausgewählten Teevariationen durchkuratiert. Sie eröffnet nicht nur Tee-Geeks wie mir, die gerne mal ein Monatsgehalt für Premium-Tees aus China und Japan verbrühen, eine vielfältige Welt aus unterschiedlichen Sorten, Reifungsstadien und Röststufen. Darunter sind alte Oolong-Tees, die ihre komplexe Aromatik ähnlich wie bei Wein erst mit zunehmenden Reifestadien erlangen oder Grüntees verschiedener Röststufen, die dann wiederum ganz unterschiedliche Wirkung auf den Körper haben. Die Mehrzahl der Tees wird dabei kalt aufgegossen und im hohen Sektglas serviert, an dem wir asthmatisch herumröcheln. Das filigrane Nosing-Erlebnis serviert den Präventiv-Appetit zum Blick auf die Menü-Karte. Die plaudert zwar allerlei saisonal Vertrautes aus, aber versäumt nicht, die japanischen Elemente charakterfest auf Tellern und im Abend zu verankern.

 

Yuzu-Spargel als Vorturner

 

So auch beim jahreszeitlich bedingten Spargel, der interessanterweise auf den Grill geworfen wurde. Auf der knackigen Spargelstange turnt japan-typisch Yuzu-Gel in Klecksen und macht hier anständig Zitrus-Rabatz. Intensive Salz-Zitronenzesten, zarte Shiso-Kresse und gerösteter Sesam komplettieren das zarte Ackergewächs. Dazu tunken wir ungebremst in Shisoblätter, die wie eine mexikanische Mole auf Sojabohnenbasis angemixt wurden. Weißer Tee aus China, der an Dill und Thymian erinnert, friend-zoned sich hierbei subtil an das Gericht heran. Solide Sommerausbeute bislang.

 

Dashi-Aubergine als kulinarische Weltliteratur

 

Ich bin nicht unentrüstet über die Buchweizenbrause, die sich im Gewand eines perligen Champagners zum nächsten Gang ins Glas mogelt. Olfaktorisch gaukelt sie buttriges Karamell-Popcorn vor, beim Trinken präsentiert sie sich dann allerdings kräuterig-erfrischend und abgängig wiederum nach Buchweizen schmeckend. Irgendwie frech, irgendwie sehr, sehr gut finden wir das! Die Aubergine zum Glas wurde gewürzt, kurz anfrittiert und dann in einem Superlativ-Sud japanischer Würzsoße mit Mirin, Miso und Dashi versenkt. Nachdem sie dort einen Tag souverän vergessen wurde, folgte die Dehydrierung, die sie das Wasser loswerden, dafür den Geschmack intensivieren ließ. Zwischen blanchierter Edamame aus dem Dashi-Fond und knackiger Erbsenkresse versetzt uns eine Paste aus Yuzu-Schalen und grüner Chili in große Euphorie.

 

Prachtkartoffel als Signature-Dish

 

Im nächsten Gang werden die Kontraste hochgefahren. Die adrett drapierte Kartoffel wurde zunächst in Scheiben geschnitten, bei unterschiedlicher Temperatur doppelt frittiert und erneut mehrlagig (innen weich und außen kross) zusammen gebaut, wobei mich das Crunch-Level über eine Zahnzusatzversicherung nachdenken lässt, dabei aber gehörig fetzt. Zungenschnalzgeräusche gibt es von uns ferner für die pikante Trüffelmayo auf Sojabasis, die von Buchenpilzen, Zwiebeln & Trüffeln abgerundet und von der japanischen Gewürzmischung Shichimi verschärft wird.

Die komplexe Vollmundigkeit, die traditionell der Rotwein zum Hauptgang herstellt, wird souverän vom gerösteten Tee eingelöst. Der drei Jahre gelagerte Grün-Tee verbindet Umami und subtilen Rauch mit holziger Süße und verlängert die Herzhaftigkeit der Premiumkartoffel äußerst clever.

Zum ersten Mal an diesem Abend bekommen wir warmen Tee, den wir aus sexy Tee-Keramik selbst einschenken dürfen. Wer an dieser Stelle mit dem Gedanken jongliert, Teezubehör beherzt zu entwenden, dem sei gesagt, dass die Mini-Dependance – das Oukan Tea -  besagte Teeausrüstung tagsüber ganz legal verkauft. Wer nicht gern an Keramik herum nagt, kann überdies vegane Miniatur-Häppchen in Form von  Matcha Cookies oder herzhafteren Reisschalen in dem kleinen japanischen Teehaus nebenan erwerben.

 

Dauerwellen-Pilz als frittiertes Badeschwamm-Imitat

 

Im Anschlussteller wurde die krause Glucke, die als Badeschwamm-Imitat gern mal auf Nadelbaumstümpfen in heimischen Wäldern residiert, virtuos hochfrisiert. Am Tisch wird sie leicht mafiös aus ihrer Räucherglocke befreit. Als sich der Nebel legt, zeigt sich das zwei Monate in Soja eingelegte und anschließend durchfrittierte Pilzgeflecht, das aufgrund von Rauchnote und Umami-Hochform wie krosser Bacon schmeckt. Dazu zwei Pürees aus geröstetem Blumenkohl und Kürbis, der die Rauchnote temperamentvoll aufnimmt. Flottes Gericht und unser Abschied vom Umami-Modul des Abends.

 

Unsterblichkeitstee als Finish

 

Der Unsterblichkeitstee aus China feiert zum Dessert eine geschmackliche Abschlussparty, die die Komplexität des Menüs charmant abbindet. Hier verschwestern sich Bitterkeit mit Umami-Noten und fruchtiger Süße zu einem epischen Verteiler-Schnaps-Ersatz. Probieren dürfen wir dazu sowohl das Dessert aus dem 3-Gang-Menü, das getarnt als weißes Schokoladenmousse einen erfrischenden Kern aus Yuzu und gelber Beete beherbergt, als auch das Rhabarber-Granit aus der 7-Gang-Abfolge, das mit Jasmintee und veganer Sahne unsere Lobhudeleien selbstbewusst auffädelt. Beide Desserts ziehen mit getopptem Kichererbsen-Baisir einen knusprigen Schlussstrich.

 

Das letzte Wort

 

Martin Müller tischt hier auf dem kurzen Dienstweg eine charakterfeste Küche auf, die fernab vom Pullunder-Fine-Dining die Grenzen japanischer Tempelkost erfrischend undogmatisch hinausschiebt. Das ausdifferenzierte und dabei angenehm promillelose Tea-Pairing sei auffällig nebenbei erwähnt und ebenso eindringlich empfohlen.

Gegensatzpaare sind es, die diesen Abend und die geschichtsträchtige Ackerstraße geformt haben. Hier trifft Armutshistorie auf Berlin-Mitte-Eleganz und AEG-Arbeiter*innengeschichte auf Abriss- und Erbauungsmanöver im ehemals größten Sanierungsgebiet Europas. Neben alten Stadtmauern verlief hier auch DIE Mauer. Begrenzen lässt sich der 36-jährige Küchendirektor allerdings nicht, aber wie es die Geschichte will, setzt er mit dem Oukan einen buddhistisch-meditativen Kontrapunkt zum Hipsterismus-Gewusel der Gegend und entlässt uns angenehm ausgelevelt und durchaus teil-erleuchtet in die Sommernacht.

 

Geschmackssinniges, Juni 2022.

 

Oukan

Ackerstraße 144

10115 Berlin

 

3 Gänge 49

7 Gänge 89

 

Lesen, was Martin Müller & Kwok Ying von Beuningen vom Oukan halten?

Bitte hier entlang: Gespräche

 

Mein Besuch im Oukan wurde vom Restaurant unterstützt. Danke an Martin und das freundliche Team.

 

Es ist Fütterungszeit in Charlottenburg!

 

12 Seasons (Berlin-Charlottenburg)

 

Der Ort:

Mein laienhaft zu großer Fake-Fur-Mantel und ich rangeln uns gegen distanzlose Herbstverwehungen durch die Giesebrechtstraße. Vor mir kugeln frisch geschlüpfte Kastanien pietätlos über Blätterleichen, fein geschnittene Gesichter blicken überlegen aus humorloser Oberbekleidung und ab und an plempert ein zugekokstes Rich Kid vom Balkon. Die denkmalgeschützten Fassaden der dahinter befindlichen 10-Zimmer-Baracken glotzen etwas konsterniert auf das non-chalante Treiben im mondänen 12 Seasons. Die kulinarische Dreifaltigkeit aus den ausnahmslos sympathischen Gastgebern Vitali Müller und Tim Hansen sowie Chefkoch Kamel Haddad fordern Charlottenburg als traditionelles Destillat Westberliner Selbstverständlichkeit stilvoll heraus, wobei Crossover und Charme konstante Begleiterinnen bilden.

 

Das Interieur:

Das zeigt sich schon an der Tür, die von Fashion-Ikone Peter diskret bewacht wird. Stets adrett gewandet, erkundigt er sich fürsorglich nach Impfstatus und Befinden und schwebt zuweilen Wasser und Wein anreichend durch den Gastraum. Letzterer wurde zusammen mit den befreundeten Architekten und Interior Designern Neikes Architekturen entworfen, was zur Folge hat, dass die perfide Superoptimierung der Innenausstattung mir das aufdringliche Gefühl gibt, alles an heimischem Mobiliar wäre Sperrmüll, auf den die BSR lüstern giert. Ein U-förmiger Bartresen mit pinker Unterbodenbeleuchtung bietet Raum für 20 Gäste, während weitere 30 ihre Nischen auf grünen Samtstühlen hinter goldenen Metall-Gitter-Wänden besetzen dürfen. Die schwarze Vinyl-Tapete erinnert an ein Schallplattenrelief und ist so gewichtig, dass 3 Tapezierer an ihr verschlissen wurden, bis sie freundlicherweise an der Wand haften blieb. Der unkaputtbare und regenbogig schimmernde Bodenbelag aus recycelten Fischernetzen ist wohl der nachhaltigste, aber auch teuerste Bestandteil der Inneneinrichtung. Er verblendet ebenso eindrücklich wie die Riffelblechfliesen, die zwar nach U-Bahn-Schacht aussehen, aber aus Keramik gefertigt sind und durch aufgebrachte Oxide in der Farbgebung verheißungsvoll changieren.

 

Das Essen:

So sexy und kleinteilig durchdacht wie das Interieur des eleganten Ladens ist auch die Handschrift von Kochvirtuose Kamel Haddad. Versuchen andere trendbewusst ihre minimalistische Tellersprache bis auf Apple-Store-Niveau runterzureduzieren, geht es im 12 Seasons noch um Pomp und Tatütata auf dem Teller. Kamel Haddad kocht wild und instinktiv. Eine Menüabfolge wie ein expressionistisches Gemälde aus wahlweise 4, 6 oder 8 Gängen entsteht monatlich neu und entledigt sich souverän geschmacklicher Traditionslinien. Ich weiß, ich weiß, Sie haben keine Zeit 8 Gänge nachzulesen. Ich habe ja auch keine Zeit, 8 Gänge auszubuchstabieren, aber meine Favoriten muss ich Ihnen mit fürsorglicher Penetranz hier doch auftischen:

 

„Möchtest du Brot vorneweg?“ fragt Vitali. „Nee, ich denke, 8 Gänge tun’s!“. Solides Abwehrspiel von mir und Entscheidung retrospektiv für gut befunden. Auf unnötig abstopfende Zwischengänge wird verzichtet, sodass ich auch nach 8 stramm durchservierten Gängen solide im Barhocker einraste.

 

Ich starte mit einem typischen 12-Seasons-Gericht – herbstlich dicht, aber knallig verspielt. Ein 62-Grad-Ei thront auf intensiv-rustikalem Spitzkohlpüree, der das gestrig-profane Image seiner Pflanzenfamilie gehörig aufpoliert. Die Überraschung lauert stets im Unscheinbaren und so ergießt sich mittig angepiekst das Innenleben um die Erfrischungshappen aus Grapefruit und die in Rotwein eingelegten Datteln. Der mit Ingwer aromatisierte Spitzkohlsud puschelt sich als High-Umami-Walze schaumig um das Gesamtensemble und lässt mein Dopamin beim Reinschaufeln fröhlich randalieren. Kamel erkennt die verräterische Anziehungskraft zwischen mir und dem Spitzkohl-Aufguss und stellt mir mitfühlend das Töpfchen zum Nachschenken an meinen Platz. Versucht man das Geschmacksbild von 3 Gerichten in einen Gang zu zwingen, holpert sich die Harmonie in der Regel siegessicher vom Teller; bei Kamel brüllt sich jede Einzelkomponente zur stimmigen Gesamtheit.

Als wären 12 Menüwechsel im Jahr nicht schon ein ambitionierter Kreativ-Turnus, zeigt sich auch beim dritten Gang, dass Kamel in Tobelaune bleibt. Ein herbstlich rustikaler Gang sollte es werden, aber sich zwischen deftigem Hausmannskosteinschlag und filigraner Asian Fusion zu entscheiden, ist nichts für Kamels Maßnahmenkatalog. Beides kommt auf den Teller und zwar in Form von 12 Stunden und bei 82 Grad gegartem Schweinebauch auf Zuckermaispüree und asiatisch angehauchtem krossen Pulpo, auf dem sich kleine Ingwer-Gelspots mit tiefschwarzen aus Sepia-Tinte abwechseln. Flambierte Maiskölbchen flankieren das Ganze pittoresk. Angegossen wird ein intensiv-fruchtiger Pulpo-Schweinebauch-Sud, der mich zart entrückt vom Barhocker rutschen lässt.

„Kann es bei dir weiter gehen?“ Phew, ich spüre, dass ich das gerade Verschlungene und meine Foodie-Seele erst einmal wieder auseinander sortieren muss und erbitte mir von Tim eine Pause. Die wird genutzt für einen kleinen Besuch der liebevoll durchmusizierten Nasszellen, die ich im Clubbing-Modus durch einen neon-berohrten Gang erreiche und die mein Handwaschzeremoniell mit Wagner-Opern oder Vivaldis 12 Jahreszeiten (Hö? Gnihi.) begleiten, und mich direkt anmutiger zum Platz zurückflattern lassen.

 

Der Künstler:

Das Menü und die monatlich entsprechend ausgewählten Weine und Cocktails sind zwar Gemeinschaftswerk, aber die konkrete Zusammensetzung bleibt bis zum neuen Monat Kamels Geheimnis. Der kocht nämlich alles nur in seinem Kopf. Viele Gerichte werden monatlich rausgeschickt, ohne dass sie zuvor probiert wurden. „Ich habe alles im Kopf! Nach dem ersten Kochen überprüfe ich meist nur noch die Harmonie, aber ändern muss ich selten etwas“, so Kamel. Schon im Vorgänger-Restaurant, dem Neumond, war er dankbar für die freie Hand und das Vertrauen, das Tim und Vitali  ihm entgegenschubsten. Sein Ausstieg aus der durchgetakteten Hotellerie war vorhersehbar, wollte er sich als Teller-Künstler nicht länger reglementieren lassen. Manchmal knutscht ihn die Muse in der U-Bahn, zuweilen erscheint das neue Menü skizzenhaft, während er ein Buch liest und in den meisten Fällen träumt er seine Gerichte.

 

Noch mehr Essen:

Kamel transformiert mental Gesehenes auf Keramik: Das Triptychon aus gelber, roter und weißer Beete hing vor einigen Wochen noch als optisches Knallbonbon am Baum vor dem Lokal und erreicht mich nun in Form von Gang Nr. 4. Ist der Rotkohl meist nur lieblos hingepfützter Sidekick auf dem Teller, wurde er von Kamel zum selbstbewussten Protagonisten hochfrisiert. Zum rigoros runterreduzierten Himbeer-Rotkohlpüree gesellen sich Rotkohlbaisertropfen und ein intensiv-fruchtiger Rotkohlsud, der mir die Gänsehaut bis unter den Scheitel zieht.  Eingelegte Gojibeeren und zarte Blättchen des roten Dreiecksklees ergänzen elegante Oxalsäure. Meine kulinarische Romantikgardine zieht sich ungebremst zu.

 

Weitere Smasher im Menü: der in der Annahme sympathischer Mittelmäßigkeit verkannte Kohlrabi, der als Eis präsentiert wurde, überdies begeisterten ein beschwippstes Birnen-Baileys-Chutney und das Bier-Tee-Eis im Dessert. Hatte Bier bisher für mich eher kulinarischen Nullwert, erträume ich mir von diesem Eis Bällebadmenge. Bier wurde hier so lange eingekocht bis nur noch Kohlenhydratketten übrig blieben, die mit ihrer herben Süße dem schwarzen Tee unerwartet harmonisch ins Aroma greifen. Der integrierte St. Maur-Käse stammt nicht aus dem Brachialgenre und ergänzt schüchtern-erdend die in süß-säuerlicher Vinaigrette eingelegten Trauben. Rosinencrumble drauf und fertig ist der im Rahmen eines Sit-Ins mit Vitali entstandene Gang. Kamel trank schwarzen Tee, Vitali erlaubte sich ein Bier, das Resultat erfreute als Oktober-Süßigkeit die 12-Seasons-Jünger*innen.

 

Der Feierabend:

Die kleine Mümmelbacke droppt das Kulinarik-Mic und beschließt den Abend mit dem Gastcocktail „Ikuru“. Reingegluckert wird sich dieses Mal ein erfrischendes Gebräu aus prickelnder Yuzu und etwas Sake, das angekräutert von Salbei und Estragon mit harmonisierender Rose verkuppelt wird und von Vivian Schön aus der Bar Roter Rabe modelliert wurde. Mittlerweile verwandelt sich die Geräuschkulisse aus entspannter Loungemusik auf Pürierstabgeräuschen und Espumaflaschengepsssssscht hin zum leisen Klicken ausgeknipster Küchenlampen und der reinigenden Polierakustik erschöpfter Küchen-Armaturen. Statt zischender Pfannen klirren nun verstärkt Weingläser aneinander. Die ganzabendlich beobachtbare Küchenchoreographie eiert langsam in den Feierabend, während die um den Tresen drapierten Gäste rotbäckig angeschaltet abwechselnd mit den Köchen, Gastgebern oder selbst mitgebrachten Begleitungen plauschen; Kamel setzt seinen Rucksack auf, schnappt sich seinen Fahrradhelm und vertraut freundlich winkend darauf, dass hier später schon ordnungsgemäß abgeschlossen wird. Bei allem Stilbewusstsein und Aftershow-Feuer hat der Abend zurückgelehnten WG-Party-Charakter.

 

Allmählich korrigiert sich mein Puls wieder nach unten. Vitali kommt zu mir und erkundigt sich nach meiner Verfassung. Ich schaue von der zuletzt geleerten Keramikkachel auf:

 

„Krasser Typ, den ihr da hinter den Gaskartuschen haltet!“

 

„Krasser Typ!“ nickt er und grinst in seine OP-Maske.

 

Geschmackssinniges, November 2021.

 

Mehr erfahren? Folgen Sie diesem Link unauffällig: Gespräche.

 

12 Seasons

Giesebrechtstraße 3

10629 Berlin

 

4 Gänge 59

6 Gänge 79

8 Gänge 99

 

Mein Besuch im 12 Seasons wurde vom Restaurant unterstützt. Danke an Tim, Vitali, Kamel und das sympathische Team.

 

7 Desserts sind nicht eines zu viel

 

CODA (Berlin-Neukölln)

 

Ich wäre dieser Tage gern etwas militanter. Deswegen Schluss jetzt! mit Halma spielen und hergelesen: ich werde hier dieses Mal nicht rumdiskutieren, auch niemanden überzeugen wollen oder erklären, warum 7 Dessert-Gänge und 4 Amuse Gueules absolut verhältnismäßig sind.

 

Die dreiköpfige Abendgesellschaft schlumpft durch die dunstig coronaverhangene Risikogebietsnacht. Vorbei an der geschwätzigen Unzufriedenheit der Wenn-du-Maske-trägst-sehe-ich-ja-dein-Lächeln-nicht-Trotteln. Um schlierige Erbrochenes-Spuren durch Neukölln tippelnd. Die beiden Menschen tragen edle Gewänder, das Tier einen zweifarbigen Onesie (aka Fell), alle haben sich hergerichtet. Das kleine Gastraum-Refugium aus Sichtbeton und Kupferleuchten, in dem die Welt uns nicht erreichen kann, heißt Coda und empfängt uns gut belüftet sowie mit maskiertem Abstand und unprätentiösem Anstand. Ein notwendiger und virusunfreundlicher Ruckzug ins Betonierte vor den wohlstandsverwahrlosten Befindlichkeiten der pandemiegeplagten Stadt.

 

Das zweifach besternte Dessert-Restaurant unter Anarcho-Patissier René Frank, der im Übrigen weder an Macarons noch an Industriezucker glaubt, widerlegt die Süßkram-These gleich zu Beginn mit der Premiumvariante der Saure-Apfel-Ringe-Kindheitsvorwerfbarkeiten, die eingekocht und mit Balsamico-Essig hochgejazzt in Form von Rote-Beete-Gummibärchen an den Tisch kommen. Das erste Grinsen geht auf’s Haus.

 

Die folgenden Apéros zerlegen besagte Desserts-müssen-süß-sein-Argumentation noch gnadenloser, indem sie als iranische Beef Cakes oder spanische Churros den Startschuss für den Süß-Salzig-Teufelskreis abfeuern. Besonders bemerkenswert in der Reihe: das Eiskonfekt, das zwar traditionell von selbst gemachter Schokolade ummantelt wird, aber mit getrocknetem Fisch kühn ins Herzhafte verdreht wird. Der Katsuobushi ist als Umami-Lieferant nicht wegdenkbarer Bestandteil der japanischen Küche und zaubert hier zusammen mit  crunchiger Rotalge ein überraschendes Bacon-Aroma aus dem Hut.

 

Die beschürzten Service-Figuren übertreffen sich abwechselnd an freundlicher Gelassenheit gepairt mit akribisch ausgeführter Handgreiflichkeit: kein Wasser spritzt, kein Flaschenboden schubst den Türmchenbau aus Kamera, Aufnahmegerätschaft und Notizbuch in den betonierten Abgrund; wäre auch nachteilig, denn da ist das Tier geparkt, das mitgebracht werden durfte, um wenigstens irgendwas an Süßigkeit entgegensetzen zu können. Es wird stets zu den Käsegängen munter und hofft über Gebühr darauf, dass etwas von dem französischen Hartkäse runterfallen möge, der über den Karottenkuchen gehobelt, als Käseschaum darunter platziert und in Form eines Käsechip auf einem unserer 8 Gänge drapiert wurde. Käse im Dessert fragt ebenfalls nicht nach Begründungsanforderungen, denn auch die süßspeisenhaft vertraut wirkenden Waffeln funktionieren mit Raclette-Käse-Geschmack und Jogurtdip mit Salz-Gurke-Pulver und setzen zwischen den süßeren Gängen einen überraschend rustikalen Zwischenton.

 

Hatte ich erwähnt, dass es zu jedem Gang eine „alkoholische Verlängerung“ gibt? Zugegeben ich hatte Respekt, dann allerdings Pascal vertraut. Er versicherte uns jünglingshaft mondän (wer auswendig gelernte Umgangsformen wünscht, kann ja ins Adlon gehen…), dass es sich lediglich um wohlportionierte Schlückchen handele, die jeden Gang unschuldig abrunden würden. Das stimmte auch noch beim Einstiegs-Aprikosencocktail mit gerösteten Koriandersamen, den es zur gelben Tomate gab. Die lag als Eisscheibe auf Kichererbsenmus und tauchte nochmals als getrockenete Variante in der Emulsion aus Olivenöl und Zitronensaft auf. Obenauf ein Kichererbsenmeringue für Optik und Konsistenz. Die freundschaftlich moderate Alkoholbegleitung galt ebenfalls für den mit 10-jährigem Portwein infused Sake, der einige Teller später die auf Holzkohle gegrillte Feige mit Haselnusseis und somit die süßliche Rauchnote perfekt wieder aufnahm. Spätestens beim Menüabschluss schepperte uns allerdings der Lambrusco mit Kirschwein und einem Spritzer Whisky halb aus der überraschend bequemen Holzbestuhlung. Auch hier wurde wieder das Raucharoma des Gangs verlängert, denn der hauchdünne und mit Schokoladenmousse gefüllte Schokoladenwürfel wurde zuvor mit dem Tonkabohneneis und der gepufften karamellisierten Schweinehaut mit Pflaumenholz abgeräuchert. Die vornehmlich aus Lipidketten bestehende Komposition bekommt den gemütlichsten Platz in meiner Lieblings-Cellulitedelle!

 

Ich schaue mich um, der Blick gleitet die nackte Bar entlang. Nichts lenkt hier von den akribisch durchdachten Tellern ab. Nur am dekorativen Holzgeäst, das in einer puristischen Keramikvase auf dem Tresen thront, lässt sich der Blick wieder gerade justieren, wenn Gläschen Nr. 8 einen doch etwas rigoroser in den Sitz betoniert hat. Besagter Blick verweilt jetzt an der Ecke der Bar, wo rosig durchblutet Sophie Passmann sitzt – ich will graziös salutieren, zum Einen aus Fangirltum, zum Anderen, weil es mir Respekt abringt, dass sie zu der Cocktailbegleitung auch noch lässig eine Flasche Sekt kippt, aber wir sind in Berlin und da ist man zu abgeklärt für enthusiastisch ausladende  Anbetungsausbrüche.

 

Kurzum: zurück zu der taktvollen Ignoranz, die das Leben in Berlin „ja so herrlich entspannt“ sein lässt. Zwischendrin immer mal Ideen durchhakend, wie die Begleitung des nächsten Gangs als nicht-alkoholisch zu rechtfertigen wäre, ermahnt man sich dann doch, dass sich niemand der hiesigen Trinkordnung zu widersetzen hat. Ich sagte ja bereits, ich würde heute nicht diskutieren! Daher aß es sich weiter glühwangig durch den Abend, zum Beispiel mit einem Pekanusskuchen aus Wassermelone, die frisch  im und um den Kuchen herum auffindbar war und als gedörrte Variante darunter ziemlichen Eindruck machte. Das Eis von der Nori-Alge und die Olive sorgten für die Salzkomponente und erstaunten uns beinahe so nachhaltig wie der folgende und gleichsam favorisierte Gang: Der Maispudding aus kandiertem Eigelb, das nur hauchzart gegart wurde und in uns Gier in ihrer entstelltesten Form entfachte, brachte sämige Maissüße auf einem befriedigenden Proteinteppich - eines dieser Gerichte, die optisch zunächst unterschätzt mit voller Wucht  ins kulinarische Gedächtnis einschlagen und zusammen mit dem mit Riesling Auslese überschwemmten Sorbet des Muskatkürbis im Glas zur Aufhebung jedweder pandemischer Beschwerlichkeiten führte.

 

Und als wäre dieser Gunstbeweis nicht schon genug, werden wir zusätzlich mit einem weiteren Gang überrascht, der als Signature-Dish seit Restaurantstart im Jahr 2016 stets weiterentwickelt wird und sogar über eine eigene Visitenkarte verfügt. Imaginäre Fanfaren sickern aus den Lautsprechern und lancieren die in Weißwein gegarte Aubergine, die von Pekanuss in Eisform bedeckt und als zusätzliches Küchlein ergänzt wird. Der Twist entsteht neben dem Lakritzsalz vor allem durch die erfrischenden Kügelchen aus Apfel-Balsamico-Reduktion, die im Abgang noch etwas säuerliche Süße hinterherwerfen. Dazu standesgemäß alkoholisierte Lustbarkeiten, die diesmal als harmloser Oolong-Tee getarnt, aber mit Sherry und Korianderschnaps aufgesprittet wurden und eindeutig das Getränk des Abends sind. What a Gang!

 

Zum Abschluss kommen Sous-Chefin Julia Leitner und ihre Einweckgläser sicher und geräuschlos auf einem Wägelchen an den Tisch gekullert mit einer Grazilität, wie sie nur in vornehme Körper eingeschrieben ist. Sie bringt uns bei, dass die kakaoummantelten Petite Four so hell sind, weil unverarbeitetes Kakaopulver erwartungswidrig nicht dunkel erscheint, sondern oftmals gefärbt wird. Unter unseren Herzen wölben sich mittlerweile Murmelbäuchlein, aber Julias verzehrfertige Köstlichkeiten passen jetzt auch noch in die Figur. Wir hmmm-en vor uns hin, wähnen uns trotz düsterer Gegenwartsanalysen beinahe in prä-coronärer Utopie und fühlen uns souverän abgespeist von den sympathischen Nachtischhäuptlingen im Coda.

 

7 Desserts sind nicht eines zu viel. Da diskutier‘ ich auch nicht drüber!

 

Geschmackssinniges, Oktober 2020.

 

CODA

Friedelstraße 47

12047 Berlin-Neukölln

 

http://coda-berlin.com/

 

4-Gang-Menü (Late Night Dinner) 83-93 (wird aktuell aufgrund der Sperrstunde nicht angeboten)

7-Gang-Menü 138-148

 

Um das Interview mit René Frank zu lesen, folgen Sie diesem Link unauffällig: Fragegespräche.

 

Mein Besuch im CODA wurde vom Restaurant unterstützt. Ein großes Dankeschön an René Frank und sein bezauberndes Team.

Brutale Dissonanzen in der Linienstraße!

 

Sagrantino 136 (Berlin-Mitte)

 

„Und warum hängen hier so viele nackte Frauen?"

„Weißt du, hier bekommen Gäste nicht, was sie erwarten.“

Schluck Negroni, ich nicke und lerne.

 

Das Sagrantino136 könnte auf den ersten Blick beinahe unter rustikal-italienischen  Klischeeverdacht fallen, unter dem ein energisch gestikulierender jugoslawischer Servicemitarbeiter mit tragisch nachgeahmtem Italo-Dialekt etwas zu obertonlastig Romina-Power-Songs hinter der schlierigen Antipasti-Theke krächzt. Man erwartet rot-weiß-karierte Tischdecken, ein Schälchen grüner Oliven mit Zahnstochern (warum eigentlich immer Zahnstocher?) und ein Potpourri an weiteren beiläufigen Geschmacksirritationen, während man die unbequemen Stühle höflich weglächelt. Sie wissen schon, so ein Lokal, in das Leute gehen, die sich mit „Tschüsselbein“ verabschieden.

 

Stattdessen erreicht uns ein Apéro – Dreigestirn aus fein gearbeitetem Rote-Beete-Meringue mit Zitronengel, einem krachenden Cornett mit schwarzem Trüffel und dem Rindertartar-Gnocco Fritto – der traditionell frittiert und crunchig im Mund zerfallend schon einmal die kulinarischen Koordinaten des Abends absteckt. Dazu wird man von einem Negroni geistig aufpoliert, der in benachbarten Hipsterbars wohlmöglich nur unter der Theke gehandelt würde. Zuständig für den ist Cincia Prataviera, die zusammen mit Matias Diaz Silva und einem kleinen Team den kleinen pubertierenden Bruder des Sagrantino in der Behrenstraße aufzieht.

Das Gegensatzpaar ist wach und angeknipst und hatte so viel vor in den ersten 8 Monaten. Die Zeit der einsetzenden Geschlechtsreife sollte mit DJ-Events, Kooperationen mit Bars und Vernissagen der zweimonatlich wechselnden Künstler*innen, die sich adoleszent an den Wänden austoben dürfen, zelebriert werden. Und das sind nur einige der Ideen, die den kleinen italienisch-peruanischen Fusions-Racker kreativ ins Erwachsenenleben befördern sollten und ihn auch post-pandemisch nicht im bedeutungslosen Mittelmaß verkümmern lassen werden. „Wir sind hier alle etwas verrückt“, verrät Küchenchef Matias, der sich zuvor im Hugos als Chef de Partie etabliert hatte. "Nicht weniger sympathisch" ergänzt meine Großhirnrinde.

Da kommt auch schon die Vorspeise, wegen der wir wiedergekommen sind. Ceviche-Fans bekommen hier allerdings kein Ceviche. „Ich habe so großen Respekt vor diesem Gericht und werde es nie auf die Karte nehmen. Wenn du richtiges Ceviche essen willst, isst du das bei meiner Oma in Peru!“ Das steht wohl so auch in der Bundescevicheverordnung. Ich untersuche den in Fischfond schwimmenden und mit Zitrone, Koriander und Tigermilch marinierten Adlerfisch, der auf schmelziger Süßkartoffelcreme gebettet und mit knusprigen Flakes der Nachtschattenknolle optisch aufgetuned ist. Wir einigen uns darauf, dass dieser Gang lediglich ein Zitat von Matias‘ heiligen Kindheitsgerichten ist, würden es niemals Ceviche nennen und erfreuen uns an der technisch präzisen Herausarbeitung des Gangs.

Die Antwort auf die Säure des Adlerfisches kommt in Form eines Perlhuhns mit Wildreis, das von Parmesan-Espuma in seiner Ají-Amarillo  – Schärfe (die gelbe Signature-Chili Perus)  besänftigt und mit Eiweißperlen, getrockneten Olivenspänen und essbaren Blüten aufgehübscht wurde. Schöner Teller, fast zu spärlich, aber es muss ja noch Platz für die ölig-schweren önologischen Besonderheiten aus der norditalienischen Umbrien-Region bleiben. Die helfen in ihrer Sagrantino-Dichte bei Gesprächen über Unfertiges und Vollkommenes, über Schwergewichtiges und Nebensächlichkeiten.

Letztere kann man durch die bodentiefen Fenster des kleinen Lokals beobachten. Bei misanthroper Veranlagung könnte man Radfahrern zusehen, die auf ihren feingliedrigen 70er-Jahre-Rennrädern, die auf das erfrischend dynamische Wesen des in Mitte und der Werbebranche arbeitenden Fahrers verweisen sollen, in die Tramgleise geraten (Christian Lindner gefällt das! Nee. Moment. Christian Lindner war das!). Wer Menschen mag, kann sie sich aber auch in schwarz-weiß und nackt an den Wänden erhängt anschauen. „Last Days of Summer“ heißen die Photographien von Christian M. Thomas, die im Rahmen der aktuellen Ausstellung bestaunt werden können. Rotwein ist in jedwedem Fall zur Genüge da.

Jetzt aber ran an den Speck! Da kommt der  Schweinebauch gelegen, der die japanischen Einflüsse Perus verpetzt. Der peruanische Lack erinnert an Teriyake, die Tomatensenfspaghetti und die Canelloni aus mit Aubergine gefülltem Wirsingkohl an die italienischen Wurzeln von Cincia und auch an die von Matias, dessen Uropa noch etwas sizilianisches Blut in den Peruaner gemixt hatte.

Kommen wir zum Dessert: die Erotisierung der Ohnmacht. Vielleicht gilt das nicht für alle, aber ich für meinen Teil verliere Beherrschung und Unschuld, sobald Tonkabohnen involviert sind. Als Biscuit-Plättchen und in Form eines zarten Schaums ruft sie große Zärtlichkeiten hervor. Sie bleibt allerdings nicht die einzige Amazonastochter in der Nachspeise, denn das Gold der Inkas, die Lúcuma, kommt ebenfalls jedoch als Mousse in europäischer Liaison mit der Erdbeere vor. Ein nicht zu süßer, aber intensiver Abschluss, der wie alles im Rahmen des Menüs ziemlich sterneambitioniert daherkommt.

Wir würden uns gern noch bis spät in die Nacht mit Cincia und Matias über Peru, Wein und ihre Ideen unterhalten, müssen jetzt aber zügig los, bevor es negronibedingt noch mehr nackte Frauen im Sagrantino136 gibt.

 

Geschmackssinniges, September 2020.

 

3 Gänge 39,00

5 Gänge 59,00

 

Sagrantino136

Linienstraße 136

10115 Berlin Mitte

 

https://www.sagrantino136.com/

 

Besondere Abende:

 

23.09.2020  Pisco-Aperitif

31.10.2020  Schwarzes Halloween-Abendessen

31.12.2020  Silvester-Abendessen

 

 Über das beste Ceviche, seine kulinarische Vision und die wichtigste Lebenslektion aus der Küche spricht Matias Diaz Silva im Interview drüben unter Fragegespräche.

Mein Besuch wurde vom Sagrantino136 unterstützt. Ein großes Danke an Cincia und Matias.

 

Die hat doch was machen lassen! Am Gemüse.

 

Bonvivant (Berlin - Schöneberg)

 

Das Gute am Bonvivant? Man muss am Wochenende nur drei cocktaillose Stunden zwischen Brunch und Dinner überbrücken. Das Cocktailbistro (die Bezeichnung ist genau so tief gestapelt wie die Preise) von The Anh Nguyen und Jules Winnfield hat als ernährungspolitisches Fundament ein rein vegetarisch-veganes Konzept und bleibt damit noch immer irritierend einsam für eine Großstadt, in der mehr Hundekottüten als Menschen über die Straßen flattern. Wer sich jetzt gähnend Grünkernbratlinge und Rote-Beete-Saft vorstellt, unterschätzt wie Gemüsekomplize und zertifizierter Bio-Koch Ottmar Pohl-Hoffbauer seine Chlorophyll-Bömbchen inszeniert. Die Teller des Slow-Food-Experten werden von den Kreationen von World-Class-Bartenderin Yvonne Rahm begleitet, die jedwede dröge Bioladenvorstellung im Begrüßungsaperitif ertrinken lässt. Den gibt es an diesem heißen Sommerabend als alkoholfreie Americano-Variante. Das hätte Yvonne nicht gewollt! Sie würde wohl für seriöses Retoxing plädieren angesichts meiner frühabendlichen Verzichtskultur. Göttin sei Dank hat die Vorzeige-Drink-Bastlerin ihre Weltklasse-Rezepte für den Nachfolger hinter der Theke liegen lassen, als sie jüngst nach Lissabon auswanderte. Aus Ehr- und Verpflichtungsgefühl wird sich später also auch eine aufgesprittete Grapefruitsalz-Tonic-Variante zu mir gesellen. Den Gästen wird im Übrigen zugetraut, schon ganz alleine trinken zu können: sympathische Beratung – ja! Betreutes Trinken – Nein!

 

Wir starten mit den Sauerteigschnitten von Brot ist Gold, die banachbarte Bio-Bäckerei, die wie das Bonvivant auf die Zusammenarbeit mit lokalen Produzent*innen setzt. Hummus mit Basilikumsalz und eine zart schmelzende Lauch - Café de Paris – Butter bewirken, dass wir unter dem verständnislosen Blick einer frechen Fliege schon vor der Vorspeise loshmmm-en. So geht’s auch direkt weiter, als der geräucherte Büffelburrata mit Rauchsalz, frischen und getrockneten Tomaten sowie Szechuan-Pfeffer an den Tisch kommt. Lauchemulsion und Korianderöl sorgen für die Kirsche auf der Käse-Torte und hinterlassen aufgeklappte Kiefer.

Zur Erinnerung: Ausgangslage waren 30 Grad und Hunger. Deswegen gab es ein erfrischendes Wildkirsch-Gazpacho mit schwarzem Knoblauch vorneweg und die Mairübe haben wir auch noch dazu bestellt. Sie und viele alte Gemüsesorten wurden in der Vergangenheit aufgrund attestierter Ödnis aus der Tellerlinguistik herausgeschrieben, kommen aber zu Recht aufpoliert und zeitgemäß interpretiert zurück an die Restauranttische. Die herbe Kohligkeit der Vorspeisen-Protagonistin wird von Shiitakepilzen, Klatschmohnblüten und einer eindrucksvollen Koriandermayo ergänzt und auch der geröstete schwarze Sesam fügt sich ohne Trendhascherei harmonisch ins Geschmacksbild.

 

Einigkeit am Tisch: Das Grünzeug ist in bester Verfassung und trotzt der Biolüge aus dem Supermarkt. „Auch wenn Bio drauf steht“, meint Geschäftsführer The Anh, „handelt es sich häufig um schnell wachsende Hybride - so kann sich kein Geschmack entwickeln“. Den gibt es jedenfalls beim Hauptgang: Während Möhren ja häufig genau so böse angeguckt werden, wie die Maske-unter-der-Nase-Träger*innen in der U-Bahn, beeindruckt die Deep-Purple-Karotte nachhaltig. Für viele war die Urkarotte ein Gemüse ohne Vorteile und somit ebenfalls in Ungnade gefallen, hat sich für diesen Gang aber aus den kulinarischen Niederungen wieder emporgeschwungen. Sie lässt sich vom Süßkartoffelpüree, Quittengelee und Ziegenjogurt fröhlich hofieren. Der gepoppte Quinoa sorgt für den Knusper und die Aprikosen-Karotten-Emulsion verbindet alles zu einem runden Teller. Und das funktioniert rundweg lokal, so The Anh: „Die Küche hat mittlerweile ein Jahr saisonal durchgekocht und es funktioniert! Man muss kein Gemüse aus Asien importieren, wenn man im Winter mit Wurzeln arbeitet.“

Die Mitesserinnen sind in ihrem estragoninfusionierten Blumenkohl vertieft, der in leaf-to-root-Manier seine Blätter als knusprigen Chip auf sich turnen hat, mit Béarnaise serviert und mit Nusscrumble und Salzbrezel aufgetuned ist. Die Gespräche sind eingestellt; alle mümmeln andächtig. Warum tun sich viele Restaurants – gerade in Großstädten - so schwer mit der Umstellung auf rein vegetarische Küche? frage ich mich und The Anh. Die Strukturen würden fehlen, um vegetarische Küche nach vorn zu bringen. „Unser Azubi lernt bei Ottmar auf raffinierte Weise vegetarisch zu kochen, aber legt seine IHK-Prüfung mit Fleisch ab. Das ist ein sehr veraltetes System, das wenig Innovation zulässt.“

 

Der Blick fällt auf die Kirche am Winterfeldtplatz, denn aufgrund der 30 Grad sitzt man dieser Tage gut belüftet und denkmalgeschützt bekachelt vor dem Schöneberger Eckpalast, vor dem sich Goltzstraße und Pallasstraße aufreizend knutschen. Mittlerweile sind der Abend kühler und die Gespräche wärmer geworden. So ein lustvoller Abend, an dem Zeit, Geheimnisse und Essen geteilt werden, ist durchaus gemeinschaftsstiftend, aber irgendwann ist auch mal Schluss mit der Sharing-Romantik. Und zwar, wenn es ans Dessert geht. „Wir bestellen drei Portionen, drei!“ poltert es feldwebelesk aus mir heraus. Bedächtiges Nicken und synchron klackende Hacken auf der anderen Tischseite. Untertänigkeit verwandelt sich in dankbare Zustimmung, als uns die Nachspeise erreicht. Das Holunderblütensorbet mit Süßdolde und die scheppernd roten Erdbeeren vom Demeterhof Weggun genießt jede ganz individuell für sich. Die moralisch korrekte Luxusaskese lässt uns und unser Nachhaltigkeitsgewissen selbstzufrieden in die hölzernen Gartenstühle sinken, die sich auch nach 5-stündiger Besetzung als überraschend bequem herausstellen.

 

Im Bonvivant ist Vegetarismus kein Selbstbezichtigungsritual. Im Gegenteil: die minimalistische Tellersprache wurde hedonistisch durchgemustert und sorgt dafür, dass alles übrig bleibende nur noch Joy sparkt. Nach diesem Abend habe ich noch genau zwei Ziele im Leben: mehr Gemüse essen und mehr trinken.

 

Geschmackssinniges, Juli 2020.

 

3 Gänge ca. 35

 

Bonvivant Cocktail Bistro

Goltzstr. 32

10781 Berlin

 

https://bonvivant.berlin/

 

Mein Besuch wurde vom Bonvivant unterstützt. Danke an The Anh und das sympathische Team.

Wir kochen, was wir wollen!

 

Handwerk (Hannover)

 

„Wir kochen, was wir wollen!“ flötet Serviceleitung Ann-Kristin Wohlfeld selbstbewusst in ihre Maske. Dieses Selbstbewusstsein musste sich das kleine Team erarbeiten. Denn im hannoveranischen, eher klassisch geprägten Gourmetumfeld, das sich irgendwo zwischen Loriots Benimmschule („Das Beste sitzt unter der Haut!“) und affektierten Kellnern mit zu eng sitzenden Sakkos verorten lässt, stieß das entspannte „Du“ der Handwerker*innen zunächst auf Irritation. Auch kulinarische Experimente wurden teilweise von einschlägigen Internetgroßankündigern argwöhnisch kommentiert. Zum unprätentiösen „Du“ erzogen und sympathisch ans Casual Fine Dining herangeführt, pariert das Hannover-Publikum mittlerweile und trudelt mit niedersächsischer Zuverlässigkeit seit 4 Jahren im Handwerk ein. Das Konzept des kleinen Restaurants in der zart verschnarchten Südstadt bildet ab, wie Ann-Kristin und Thomas Wohlfeld selbst gern essen gehen würden: „Keine Steifheit! Wir wollen keinen Kellner, der uns den Stuhl vorzieht, wenn wir aufstehen möchten; bei uns kann man mit Cappi und Hoodie ins Restaurant kommen.“ Atmosphärisch würde man alle im Team direkt zu sich nach Hause einladen und wenn die Stühle nicht reichen, wird’s eben auf dem mit Kissen ausgelegten Boden gesellig. Das Essen bliebe Hochsitzformat. Kein 08/15, dafür am liebsten 24/7!

Diese Formel zeigt sich schon beim ersten Gruß aus der Küche. Service-Lady Laura Körner präsentiert uns ein  Rote-Beete-Baiser mit selbst eingelegten Tomaten und Olivenölmayonnaise, gefolgt von einem Cornett mit Vanille-Kimitsu und gedörrter Karottencreme, dazu krachende Kartoffelröllchen, in denen eine temperamentvolle Kaffee-Kerbel-Creme versteckt ist. Laura rät an, die Mini-Vernissage in vorsortierter Reihenfolge zu genießen. Gerade noch deuteln wir das durchdachte Geschmacksbild des ersten Amuse Gueule, als Ann-Kristin gut gelaunt mit dem zweiten Einstimmer an unseren Tisch tänzelt: die Fjordforelle planscht in einem High-End-Buttermilchsud, den wir in seiner Umami-Dichte nicht erwartet hätten. Forellenkavier und geröstete Haselnüsse runden den Sprachlosmacher ab.

Ann-Kristins Partner und Papa des Kindes, das sie derzeitig noch als Minimurmel durch den Gastraum schaukelt,  verleiht dem Handwerk  als Küchenchef eine klare Handschrift. Thomas Wohlfeld steht auf Säure und Salz. Das kann auch mal herausforderned sein, wie sich in der folgenden Vorspeise zeigt. Das Kalbstartar wird virtuos vom Wasabi begleitet und von einem Taler aus salzigem Hippenteig behütet. Kombi und Knusper sitzen! Da die Portion recht großzügig ausfällt, zeigt sich auch der Salzgehalt beinahe überbordend und wird gerade noch vom Erbseneis ausgebremst, das die Harmonie auf dem Teller wieder ausbalanciert. Gut, dass alle im Team als kulinarisches Korrektiv wirken und im Rahmen der demokratisch angelegten Teamessen Thomas‘ Salz-Säure-Fanboytum relativieren und seine Teller auch für ungeübte Gäste anschlussfähiger machen. Anschlussfähig ist die Küche auch in Bezug auf anlassbezogene Erfordernisse: Für die Schwangere am Tisch springt Gurke für das Kalb ein; für die Kinder, die schon geboren und sitzfähig sind, steht selbst gemachte Tagliatelle bereit. Aus Abstinenz-Solidarität nippe auch ich an einem  alkoholfreien Aperitif, der erfrischt von Minze und bevollmundet durch Traube durchwegs ohne Alkohol auskommt. Dazu mümmeln wir am Sauerteigbrot und frisieren uns mit olivenbestaubter Butter die Vorfreude auf den nächsten Gang hoch.

Die Raffinesse der Aperos fehlt dem grünen Spargel des Zwischengangs etwas. Er glänzt zwar wie die Stirn eines stark pubertierenden Jugendlichen, bleibt marinadetechnisch aber schwachbrüstig. Die Olivencreme ist gut gemeint, lümmelt aber etwas unverstanden auf der Keramik. Von den erfrischenden Grapefruittupfen wünscht man sich mehr, weniger von den groben Parmesanblättchen, die dem Gang mit ihrer Vordergründigkeit etwas an Eleganz rauben. Meine Begleitung mag’s, für mich darf es weitergehen.

Der Yuzu-Lolli mit würzigem Basilikumschaum entfacht kindliche Begeisterung und belebt uns vor dem Hauptgang, der zu unseren Favoriten zählt. Der Maibockrücken ist ein starker Protagonist und wird von eingelegten grünen Erdbeeren säuerlich befruchtet. Da bekanntlich aller guten Dinge Brei sind, gibt es den vom Blumenkohl, während eine samtig-kirschige Rehjus diesen fein geschliffenen Teller abrundet. Treffer versenkt!

Wir lehnen uns zufrieden zurück und lassen die Blicke durch den Raum schunkeln: An der Wand hängen selbst geschossene, vergrößerte Fotos; zu sehen sind Barcelona-Streetart und Eindrücke vom Umbau des idyllischen Gartenlokals, das zuvor eine Bäckerei und eine Kneipe beherbergte. Das Ambiente ist wie die Tellersprache geschmackvoll reduziert. Industrial Charme meets 60er-Jahre-Design-Klassiker-Bestuhlung und alles bleibt in dezenten Grautönen gehalten, um nicht vom beschaulichen Blick in den Garten abzulenken. Genau der richtige Moment, um mit dem ersten Dessert zu beginnen: Das Rhabarber-Granité, das als abgekratztes Eis mit knusprigerer Textur als ein Sorbet aufwartet, und souverän auf dem Sauerrahmeis thront, wird vom Petersilienöl perfekt ergänzt. Die Geheiminfo vom Küchenchef: das Öl kann mit ordentlich Petersilie und Sonnenblumenöl zügig mit dem Thermomix selbst gebastelt werden. Ausprobierwürdig! Wir sind begeistert von Thomas‘ Lieblingsgang, haben aber noch nicht genug. Dessert Nr. 2 kombiniert eine Eiscreme aus brauner Butter mit saisonal erröteten Erdbeeren. Dass das funktioniert, muss nicht weiter kommentiert werden. Die kleinen in Erdbeersaft getränkten Brioche-Schwämmchen holen Zusatzpunkte in der Kategorie Fluffigkeit. Mein Gegenüber und ich lächeln beseelt: sie Human Baby, ich Food Baby – beim Bauchumfang zeigt sich wenig Unterschied.

Wir plaudern noch ein wenig mit Thomas und Ann-Kristin, die beweisen, dass sich ein sinnvolles Hygienekonzept und professioneller Service nicht ausschließen müssen und uns verraten, dass die guten Weinflaschen im 2,50 Meter hohen Keller wie ein Raketenarsenal bereit liegen. Wir wissen, wo wir einbrechen müssen, aber werden von Thomas im gleichen Satz auf die hochwertige Alarmanlage verwiesen. Schon gut, wir kommen auch legal wieder, werden aber vorerst mit den Petite Fours aus weißen Schoko-Pralinen (mit Olive gefüllt) und den portugiesischen Vorzeige-Blätterteigtörtchen Pasteis de Nata verabschiedet. Vorhang und Kinnlade fallen runter, die Augen zu und wir in die Nacht hinaus.

 

Geschmackssinniges, Mai 2020.

 

Warum man als werdender Papa kreativere Gerichte entwirft, was er bei Tim Mälzer gelernt hat und warum er beim Essen auch mal weint verrät Küchenchef Thomas Wohlfeld im Interview unter Fragegespräche.

 

5 Gänge 75

6 Gänge 85

7 Gänge 95

 

Handwerk

Altenbekener Damm 17

30173 Hannover

 

https://handwerk-hannover.com/

 

Mein Besuch im Handwerk wurde vom Restaurant unterstützt. Dankeschön an Ann-Kristin und Thomas Wohlfeld und an das herzliche Team.

 

Von Peripheriegelassenheit, kulinarischem Eigensinn und Föhnfrisuren

 

Jungbluth (Berlin - Steglitz)

 

Hab' im Darknet gelesen, Steglitz würde jetzt kommen! Doch bei all der durch kesse Kunstdrucke angetäuschten Hipness bleibt das Jungbluth ein Restaurant, in dem man getrost eine ältere Steglitzer Dame in Ohnmacht, doch niemals eine vergessene Technoclub-Pfandmarke fallen lassen könnte.

 

André Sawahn bespielt den Laden mit sympathischer Peripherie-Gelassenheit, während sich sein ehemaliger Compagnon ein Retreat vom Bourdeaux gönnt, den die Beiden in den letzten Jahren zusammen getrunken haben. Vor 13 Jahren begannen er und Felix Leisegang damit, Türen und Fenster von ihren Altlasten und die Teller ihrer 3-Gang-Menüs von eventuellen Kanten abzuschleifen. Damals kam junges Blut in den kulinarisch leicht verschnarchten Bezirk im Berliner Süd-Westen. Erst Jungbluth, dann Vollbluth, mittlerweile eher Ruhigbluth – aber bevor ich in die Flachspruchhölle abbiege, lieber zügig auf die Teller geguckt:

 

Wir starten mit einem vollmundigen Steckrübensüppchen, das mit Sternanisschaum hochfrisiert wird. Sechs Foodies versuchen, mit Zungen und Fingern Reste aus den Glastöpfchen zu ergaunern und gucken anschließend traurig. Es ist angefüttert!

Wir trösten uns mit Champagner bis zur nächsten Überraschung, die in Form eines Salats an den Tisch kommt. Salat? Ich weiß, was Sie jetzt denken. Was den Edelrestaurant-Türmchenbau angeht, sind Sawahns Kreationen vielleicht keine Hochleistungsteller, aber geschmacklich haben sie Suchtcharakter wie ein Glutamat-Brühwürfel. Das Chlorophyll-Geschwader besteht aus knackig-frischem Feldsalat und Rucola, dessen Nussigkeit von samtigen Kürbisspalten ergänzt wird. Letztlich versetzt Ziegenmilchjogurt den vermeintlich profanen Salatteller zusammen mit präzise austarierter Pistazien-Möhren-Vinaigrette in den kulinarischen Ausnahmezustand. Bis das Servicepersonal zum Tellerabtransport antritt, Gabelgekratze bis zur Würdelosigkeit.

 

Die leeren Teller hatten die gleiche Wirkung wie die Außenfassade von Sawahns Eckladen – innerlich wurde alles grau und traurig. Mit jedem neu servierten Teller stieg der Serotonin-Spiegel wieder und ließ vergessen, dass die Herberge des Restaurants kein architektonischer Initialfunken ist. So auch bei der Vorspeise, die ohne kompositorische Zwangsläufigkeiten auskommt. André präsentiert seinen konfierten Heilbutt auf einem Bett aus satt abgewürzten Linsen. Anliegend verneigt sich zart angedünsteter Pak Choi lässig über dem marinierten Rettich und der  Chip von der Reisnudel findet in der Mundhöhle Verwendung als rummelnder Krachmacher. Der Seebewohner und seine Entourage lagern auf einer überraschenden Senf-Maracuja-Vinaigrette, die den Teller mit graziler Fruchtigkeit abrundet. Auch wenn der Teller optisch unauffällig bleibt, keine Spur von Gewöhnlichkeit.

 

Vier geschmacklich dicht verpackte Dips werden zum Sauerteigbrot gereicht, unterstützen die Hauptgangsvorfreude und lassen unsere Blicke snackenderweise durch die „Alte Küche“ schweifen, in der wir hochherrschaftlich an einem Einzeltisch platziert wurden. Hier wird zudem die nach Verständigkeit aussehende Whiskyauswahl hinter einer abgeschlossenen Glastür aufbewahrt - meine Tischnachbarin schlägt vor, ihr Schlüsselbund durchzuprobieren. Alle am Tisch drücken die Daumen.

 

Die Glastür erweist sich als Hochsicherheitstrakt - man merkt die juristische Vorbildung des Küchenchefs. Das Grundstudium in Jura würde zwar bei der Ahndung grundlegender Regeln des guten Benehmens helfen, aber so ganz ohne die rechte Gehirnhälfte hätte sich André Sawahn das Berufsleben nicht vorstellen können. Wenn er in der UV-Strahlen-reichen Jahreszeit mit dem Fahrrad im Jungbluth ankommt, wird die Prenzlauer-Berg-Familienvater-Identität gegen die eines akribischen Handwerkers getauscht. Im Hauptgang treibt er sie zur Perfektion: die filigran interpretierte Entenbrust wird mit Ingwer-Koriander-Couscous verbesondert und von knackigem Blumenkohl komplettiert. Die gegrillten Pigmentos brechen mit ihrer leichten Schärfe und zierlicher Säure die Herzhaftigkeit des auf den Punkt gedämpften Federviehs. Eindeutig wabert die Genetik seiner Küche über dem Teller. Man hört Sterneköchin und Sawahns Ausbilderin Sonja Frühsammer flüstern: „Iss‘ doch mal den ganzen Teller! Passt das wirklich alles zusammen?“ – denn das sollte das größte Learning für den jungen Küchenchef sein. Bei einem kulinarischen Dreifaltigkeits-Konzept muss eben jeder Gang sitzen.

 

Das gilt auch für’s gefräßigmachende Dessert: die saftige Tarte de Santiaga wirkt wenig herantastend, er hat sie genau so fest im Griff wie die Mango, die dieser Tage durch Überstrapazierung etwas unter Legitimitätsdruck geraten ist, hier aber als marinierte Variante ideal passt; vor allem in der Kombination mit samtigen Marzipanmousse, das beinahe unerhörten Fluffigkeitsfaktor aufweist und alle übrig gebliebenen low-carb-nach-20Uhr-Pläne jäh durchbricht. Affirmative Fülllaute wölben durch den Raum, während wir zufrieden an die Holzlehnen heransinken. So dient der Rest der Zeit dem sozialen Austausch und den Absackern. Nachfrageüberhang beim Haselnussschnaps – zur flüssigen Nutella gesellen sich Himbeergeist und Birnenbrand bei den Mittrinker*innen.

 

Vereint in hedonistischer Genugtuung purzeln wir aus dem Lokal. Draußen ist alles ruhig und die Nacht so dunkel wie die Fenster. So wenig wie das Jungbluth mit seinem Satellitstandort und dem historischen Küchenbüffet zum szenigen Gastro-Hotspot werden wird, so wenig wird Steglitz mit seinen gepflegten Vorgärten, Föhnfrisuren und Nagelhäuten zum hippen Bezirk. Gutes braucht keine Imagekampagne, aber wir - müde vom Over-Tourism innerhalb des S-Bahn-Rings - zuweilen das Durchatmen in beschaulichen Randbezirken und dazu verabreden wir uns schon einmal für den Sommer auf einer der beiden Außenterrassen des Jungbluths. Dorthin wird der Balance-Bursche hinter'm Herd seine antiautoritären Interpretationen gegen kulinarische Banalität schicken. Das schreibe ich jetzt ins Darknet (Pssst!).

 

Geschmackssinniges, März 2020.

 

Was André Sawahn von seiner Lieblingsköchin Sonja Frühsammer gelernt hat, warum er mit 60 ein Gastro-Rockstar sein wird und was er seiner Tochter raten würde, wenn sie Köchin werden möchte, liest man unter Fragegespräche.

 

3 Gänge - 35 Euro

 

JUNGBLUTH Restaurant

Lepsius Straße 63

12163 Berlin

 

Tel.: 030 – 79789605

info@jungbluth-restaurant.de

 

Mein Besuch im Jungbluth wurde vom Restaurant unterstützt. Danke an André Sawahn und sein engagiertes Team.

 

Wenn Omi dit sagt, is' dit och so!

 

 

Buddha Republic (Berlin - Charlottenburg)

 

Sonne scheint, Pollenflug gering, Erdachsenkrümmung liegt bei soliden 23,43666°. Ein guter Tag, um Omi in die Gemäldegalerie auszuführen. Omi sagt zu. Ich glaube, Omi hat keinen Bock auf Gemälde. Ich glaube, Omi sagte nur zu, weil ich versprochen hatte, dass ich sie zur Stärkung zum Essen ausführen würde. „Ich zeig‘ dir meinen Lieblings-Inder!“. Omi so: „Hmm, na gut…!“ und man kann es ihr kaum verübeln.

Wir kennen sie alle: die indischen Restaurants, die zwar auf rührende Weise sympathisch sind, aber in ihrer konsequenten Abwesenheit von Eleganz auch irgendwie traurig machen. Auf dem Bartresen blinkt noch ein bunt beleuchteter Polyethylen-Weihnachtsbaum (im Mai), die übersüßten Billigfuselcocktails in Ballermannoptik überfordern gleichsam Netzhaut und Bauchspeicheldrüse und das Zuviel an Lichterketten neben abgeplatzten Plastik-Buddha-Skulpturen belästigt ebenfalls niemanden mit heimeliger Atmosphäre.

Man sitzt mit 15 Leuten am Tisch, alle bestellen Unterschiedliches, alle bekommen Gleiches. Unidentifizierbares schwimmt in einer Currysoße. Immer. Dazu Reis, pappiger Salat und alle kloppen sich ums Bhatura. Man lächelt höflich, gibt Trinkgeld aus Mitleid, räumt unbeabsichtigt den dusseligen Plastikbuddha ab, gibt noch mehr Entschuldigungstrinkgeld: für den Buddha, für die Restaurantwahl, damit das Team eine Keramikvase aus einer Schöneberger Manufaktur kaufen und sie an die Stelle des Kunststoffweihnachtsbäumchens stellen kann.

 

Alles das und noch viel weniger ist Buddha Republic nicht! Von außen als Prenzlauer-Berg-Café getarnt, eröffnet es indoor einen Gastraumschlauch, der jedem Innenarchitekten Schweißperlen auf die Stirn und Krokodilstränen in die Augen treiben würde. Perfekt gelöst mit heroischer Längstafel in der Mitte und links und rechts zarten Zweiertischlein. Alles symmetrisch. Meine Zwangsneurose atmet auf. Jetzt gibt's Klimmbimm auf die Sehorgane: eine riesige Installation aus Hängepflanzen, Kerzenleuchtern, Vogelkäfigen, Windlichtern und Industrieleuchten baumelt die gesamte Raumachse entlang. Was sich wuselig liest, hat System. Immer wieder verliert sich der Blick im beruhigenden Arrangement, immer wieder werden Niedlichkeiten entdeckt. Wenn der Halswirbel sich verzahnt, Kopf rum und reingeguckt in die Spiegelfront der Seitenwände, in der sich das illuminierte Botanik-Konglomerat selbstverliebt in Pose spiegeln kann. Jetzt schmerzt der linke Schulterblattheber, also eigen-ostheopatisch zur Decke glotzen. Alles voller lila Ballons! Das Feng Shui tanzt sich hier elegant durch präzise arrangierte Elemente. „Wer hat das alles entworfen?“ frage ich Armand, den in Indien aufgewachsenen Perser und Betreiber des besonderen Lokals. „Das habe ich selbst gemacht!“, meint er. Ich gucke skeptisch: „Okay, dann hast du ein wahnsinniges Talent für Design!“ „Ja ja, ich habe mal Interieur Design studiert.“ Ha! Hab‘ ich ihn. Das bastelt niemand an einem freien Vormittag mal eben so zusammen.

Ich staune und wende mich wieder meinem Chai-Tee zu, der liebevoll auf einem hölzernen Teegedeck mit zierlichen Schälchen (Honig und Rohrzucker) präsentiert wird und mich mit Teeexpert*innenwerkzeug wie Honigspirale und goldenem Löffel (angemessen!) ausstattet. So lässt es sich auf die Vorspeise warten.

 

Omi und ich tragen gern Chili-Battles am Tisch aus. Omi ist zudem Garnelen-Fan. Daher gibt’s die in „very spicy“ vorneweg – frische Chilis, Limetten, Sesam-Sud und ein großes aromatisches Curryblatt bekommen den Krebstieren gut. Letzteres wird man woanders selten finden – im Einkauf teuer, auf dem Teller Beifall provozierend. Die hochwertigen Zutaten und der traditionelle Tandoori-Ofen erklären die für ein indisches Restaurant angehobenen Preise. Den indischen Lehmofen, in dem Spieße auf verschiedenen Gehölzen gegart werden, sucht man vergeblich bei Armands Kolleg*innen. Auf Nachfrage, was der Begriff „Tandoori-Gericht“ in besagten Restaurants meint, wird entgegnet, dass lediglich ein typisches „Tandoori-Gewürz“ verwendet wird.

Dass sich der Aufwand um das traditionelle Handwerk lohnt, bekommen wir im Hauptgang zu spüren: Mein Garnelenspieß und Omis Huhn wurden über Bambusholz gegart – jede Holzart bewirkt einen anderen Geschmack. Effektheischend werden die meterlangen Spieße zischend heiß an die Tische getragen und vor den Augen der Gäste vom professionell bezangten Servicepersonal nackig gemacht. Die Tandoori-Produkte plumpsen neben die Reisschälchen auf die großen Teller, die mit Pistazien und Granatapfelkernen aufgehübscht und von Papadam-Scheiben und verschiedenen Dips flankiert werden. Um meine Riesengarnelen schlingert der Geist des verkohlten Bambus – die Rauchnote ist genau so zart wie Omis Huhn.

Omi bereut ihre Zusage nicht. Auch nicht als das Dessert mit flüssigem Stickstoff bewölkt an unseren Tisch pufft: schmelziges Vanille – und Pistazieneis werden von uns mit dem dazu gereichten Dattel-Sesam-Techtelmechtel beklebt. Während ich die Desserts in indischen Restaurants mit ihrer erschlagenden Süße eher als mittelangenehm empfinde, tariert Armand auch im Dessertmodus die Komponenten seiner Küche grazil aus.

 

Omi findet, Buddha Republic sei mit seinem erfrischenden Crossover-Interieur aus traditionellen Elementen und Design-Edgyness, der handwerklichen Authentizität und dem unnachgiebigen Fokus auf  qualitativ hochwertige Produkte der konsequenteste Inder Berlins. Und wenn Omi dit sagt, is‘ dit och so!

 

Geschmackssinniges, Februar 2020.

 

3 Gänge: ca. 40-50 Euro

 

Buddha Republic

Knesebeckstr. 88

10623 Berlin

 

Telefon: 030/31164204

Website: www.buddha-republic.com

 

Mein Besuch bei Buddha Republic wurde vom Restaurant unterstützt. Danke an Armand und sein zuckersüßes Team.

 

Es lebe das Leben! Es sterbe der Dresscode! 

 

Tian (München)

 

Die unbeeindruckte Berliner Grundhaltung, mit der meine Birkenstock-Schlappen zusammen mit  mir ins Münchener TIAN geschlendert kommen und mich dabei wenig kreditwürdig wirken lassen, provoziert am Nebentisch. Im weißen Satinkleidgetüll steckt eine erbarmungslos eingeschnürte Dame, die meine Fußbekleidung zart angeekelt und mit meditativer Verständnislosigkeit anstarrt. Bei näherer Betrachtung versammelt sie an ihrem Tisch ausschließlich Personen, die phänotypisch ein gutes Genom und einen Gästelistenplatz auf einer exklusiven Party im P1 erahnen lassen; sie wirken als würden sie tagsüber in enger Neon-Sportbekleidung durch den Englischen Garten und um ihr Leben joggen, um abends vital in ihr Champagnerglas beißen zu können, falls der Nebenmensch die gleiche Designergarderobe trägt. Meine entschiedene Pro-Casual-Fine-Dining-Attitüde prallt hier auf die unabsichtliche Karikatur einer veralteten Idee von Gourmet-Affektiertheit. Ist das München oder nur eine Situation? Der verunsichernde Auftakt wird umgehend von den sympathischen Service-Ladies wettgemacht, die uns auf ihren unprätentiösen Sneakers zum Tisch federn und beim Blick auf’s orthopädische Schuhwerk anerkennend grinsen.

 

Beim Gruß aus der Küche bin ich gradweg beruhigt, dass ich zur Hose mit elastischem Bund statt zum Satinkleid gegriffen habe: Da ist sie wieder die TIAN-Experience, die mich im Wiener Mutterschiff unter Paul Ivic schon begeistert hat. Uns begrüßt ein flüssiger Maiskolben – knallig-gelb, samtige Konsistenz und die Jalapeno-Schärfe zieht sanft nach. Schöner Auftakt. In den meisten Restaurants überzeugen mich die vegetarischen Vorspeisen und Zwischengänge eher als die befleischten Hauptgänge, sind sie doch oft kreativer und technisch interessanter. In 7 Gängen allerdings abwechslungsreich und saisonal zu zeigen, dass vegetarische Küche mehr kann als Gemüse blanchieren und ein paar Gurken fermentieren,  ist herausfordernd. Das seit 2014 besternte Wiener Tian hatte dies mit gemüsigen Mini-Vernissagen auf den Tellern im Winter bestechend gut gemeistert und ich erwartete in der Münchener Dependance im Sommer nun Ebenbürtiges. Alle zwei Monate Menüwechsel - dabei entscheidet die saisonale Sonneneinstrahlung, was auf den Tellern landet.

 

Diese Saisonalität zeigt sich gleich bei der Vorspeise, die mit ihren aufgetürmten Einzelbauteilen einen Naschrundgang durch den Garten nachahmt: Kohlrabi als Tarte - gefüllt mit Tomatensalat, Radieschen und Sonnenblumenkernen - , an die eine Buttermilch-Schnittlauch-Soße gegossen wird. Optisch bemerkenswert, geschmacklich etwas blass, aber eben produkthofierend. Nach diesem selbsterklärenden Einstieg, gibt’s eine steile Progression hin zum ersten recht üppigen Gang: Die Lauchsuppe versorgt uns durch ihre kartoffelige Sämigkeit mit Hauptgangs-Wumms. Die veganen Maki-Röllchen zaubern einen spannenden Kontrapunkt und die schmelzige Burrata harmonisiert das traditionelle Süppchen mit den hippen Sushi-Elementen. Zufriedenes Zurücklehnen.

 

Während ich in Restaurants schwankende Aufdringlichkeitsgrade am Tisch erlebt habe, erkenne ich den selbstinszenierungsbefreiten Service aus dem Wiener TIAN wieder: Stets professionell-zurückhaltend und doch sofort angeschaltet, wenn es um leidige Foodie-Fragen geht. Wie beim folgenden Zwischengang, als mich die wache Service-Dame vom grübelnden Gabelgepieke erlöst und mir verrät, dass die blitzende Glitzerkugel auf meinem Teller ein Tomatengelee auf Agar-Agar-Basis ist, das mit Bronzepulver aufgebrezelt und um eine zuvor eingefrorene Ratatouille-Murmel gehüllt wurde. Dazu hochintensive Pflaumentomate und extreme Säure und Schärfe in den Paprika-Auberginen-Minielementen, die mit jedem Löffel punktuell explodieren. Was soll denn jetzt noch kommen?

 

Ein Lauchangriff, der bei ungeübter Zunge einem Aufstieg auf den Olympiaberg in Badelatschen gleicht. Ein Reiz-Reaktions-Ensemble aus säuerlich angemachten Pfifferlingen und einem süßlichen Mousse aus Lauch und Pastinake - die Rauchnote kommt hierbei vom angekokelten Lauch. Die zurückhaltend anbei liegenden  Zwiebelchen bleiben unschuldig und geben lediglich zarte Würze und als Crunch kracht gepuffter Buchweizen. Dieser Zwischengang hat eindeutig das höchste Herumwunder-Potential; wir kommen schließlich darauf, dass die Komplexität des Lauchs in allen Komponenten ausbuchstabiert wurde. Der Gang entwickelt sich wie kein zweiter: viel Süße, viel Rauch, viel Säure – einzeln gegessen, sind die Elemente erschlagend, aber selbst mich als Säure-Mimose überzeugt die präzise austarierte Gesamtkomposition mit ihrer komplexen Aromentiefe, die uns nachhaltig die Geschmacksknospen versohlt. Die Teller sind leer und wir uns einig, dass Lauch ein vollkommen unterschätztes Gemüse ist, das dringend eine angemessene Imagekampagne benötigt.

 

Der Spitzkohl braucht aufgrund seines Hipsterstatus keine Instagramkarriere als Popularitätsboost und wird im Hauptgang zurück ins bayerische Wirtshaus geholt. Mit deftiger Kohl-Kümmel-Soße imitiert die Umami-Granate eine herzhaft-bajuwarische Mahlzeit, während die Präsentation eingerollt in einer großen Tagliatello den Kohlpopstar aus der urigen Gastwirtschaft zurück auf den Gourmetteller bugsiert. Wer jetzt noch nach Fleisch verlangt, schubst auch kleine Enten in die Isar.

 

Das Dessert zeigt sich kompositorisch etwas einbahnig. Schokoladenmousse an Himbeere und Schokoladensorbet im Himbeersud. Gepimpt mit Rosenwasser ist die Kombination für den Sommer zwar erfrischend gedacht und bewahrt uns mit fruchtiger Säure vor dem Schoko-Tod, erreicht uns aber an diesem heißen August-Abend nicht  klirrend kalt, sondern leicht angetaut. Schade. Die Mini-Financiers, die den französischen Gebäck-Klassiker mit Mandelmehl, Mandelstückchen, tonnenweise Butter und Amaretto sympathisch interpretieren, holen das eher unangestrengte Nachspiel aus der Eindimensionalität. Ein erneuter Gruß aus der Küche überrascht uns anschließend mit Stachelbeersalat, der es sich mit Tonic-Schaum auf einem Kirsch-Crumble gemütlich gemacht hat, und tröstet uns zusammen mit dem abschließenden Schokosoufflee aus Walnuss und Haselnussmehl über unsere Temperaturdifferenzen mit dem Dessert hinweg.

 

In Zeiten des Casual Fine Dining können nur noch wenige Sternerestaurants den Standesdünkel einiger ausgewählter Gäste nähren und dem TIAN in München scheint es darum genau nicht zu gehen. Der ursprüngliche Habitus gehobener Tischkultur, der lange Zeit die Barriere für Uneingeweihte darstellte, weicht der gemeinsamen Begeisterung für einen genussvollen Abend. Und für Genuss braucht es weder gestärkte Tischdecken oder 80er-Jahre-Snob-Sommeliers noch das 150Gramm-Rindersteak oder angestrengte Dresscodes. Es braucht nur etwas Gemüse, Technik und Leidenschaft und dabei steht das TIAN in München der großen Schwester in Wien in nichts nach.

 

Es lebe das Leben! Es sterbe der Dresscode.

 

Geschmackssinniges, August 2019.

 

Wer wissen möchte, was mir Gemüseversteher Paul Ivic über seine Lieblingsköchin, inspirierende Bücher und sein Flexitariertum verraten hat, klickt sich heimlich rüber zu den Fragegesprächen.

 

TIAN Restaurant München

Frauenstraße 4

80469 München

 

https://www.tian-restaurant.com/muenchen/

 

Menü:

 

4 Gänge 99

5 Gänge 106

6 Gänge 112

7 Gänge 122

 

Mein Besuch im Tian München wurde vom Restaurant unterstützt. Dankeschön an Nina Kasmaei.

 

Meine 5 liebsten Low-Budget-Fine-Dining-Spots

 

 

Hilflosen Grundschulkindern das Pausenbrot abziehen? Das muss nicht sein. Feines Dinieren geht auch ohne dickes Portmonee! Hier stelle ich meine 5 liebsten Wenig-Kohle-aber-gutes-Essen-Speisewirtschaften vor:

 

            ✅ schniekes Fine Dining

✅ solide 3 Gänge

 ✅ ca. 50 Eurotaler

 

#5 Oishinbo (Berlin - Prenzlauer Berg)

 

Wasabi-Knallerei bis eine*r heult!

 

Wer sich zuweilen im Prenzlauer Berg aufhält, befolge umgehend die 4+2-Regel. 4 japanische Tapas und 2 standesgemäße Sake-Cocktails. Bestellt wird der Sake Smash aus japanischem Reisgebräu, Zitronensaft, Lavendel und Minze. Dreht gut, tut gut.

Anschließend geht es um Garnelenteigtaschen, die etwas heimtückisch mit kaum sicht - aber umso wahrnehmbar(er)en Wasabi-Wölkchen dekoriert sind. Die versohlen einem in regelmäßigen Abständen die Nasenmuscheln. Wasabibedingte Kräuselnasen stören die Süßkartoffeln nicht, denn Süßkartoffeln sind Freunde! Sie erden als frittierte Kroketten freundlich-samtig die Mundschleimhaut, wenn Wasabi einen in die Knie gezwungen hat – der Hund. Letzterer gehört im Übrigen mitgebracht und schnüffelt mit der Behutsamkeit einer Chirurgin an der Tischkante entlang! Auf den Knien bleibt man vorerst auch, denn die flambierten Black-Tiger-Garnelen wuchten noch eine Schippe für die Umami-Begehrlichkeit drauf. Und weil man auf einem Knie schlecht hocken kann, steht stimmungsunterstützend Drink Nr. 2 auf dem Tisch. Dass im Glas neben Sake nun auch noch Rum und Cherry herumschwimmen, stört niemanden. Bei Bedarf kann man sich beim Betrinken narzisstisch in der schwarzen Glaswand spiegeln – ihr kennt das von diesem geheimnisvollen eBay-Kleinanzeigen-Fetisch, bei dem man sich nackt in spiegelnden Verkaufsobjekten ablichtet. Hier kann man Selbiges – nur angezogen, aber eben essend. Finde ich ebenso befetischenswert! Man kann aber auch die mangaesken Bärchen-Figurinen im an der Wand in mehr als herkömmlicher Größe hängenden Monster-Setzkasten zählen oder sich unauffällig der letzten Tapa zuwenden, die uns als fein-mildes Lachstatar auf Avocado erreicht. In Nachbarschaft zum eingelegten Ingwer als flankierendes Fruchtbömbchen thronen schon wieder Wasabi-Creme-Röschen, was für die einen die Möglichkeit bietet, sich heul-schwitzend für die nächsten 10 Minuten aus jedwedem Tischgespräch zu entklinken und für die anderen die Option eröffnet, brusttrommelnd mit sich selbst in den Brennometer-Ring zu steigen.

Im Schnitt spendet man 25 Eurotaler für die Teller und je nach Schluckspecht*innengrad ca. 10 für das gescheite Kaltgetränk dazu. Hinreichend satt und weitreichend angetrunken geht’s nun hinaus in die Nacht oder radikal auf’s Sofa, wo man gnadenlos liegenbleibt.

Wohl’s bekommt’s.

 

Geschmackssinniges, Januar 2020.

 

Oishinbo

Lychener Straße 46

10437 Berlin

 

https://oishinbo-izakaya.berlin/

 

Mein Besuch im Oishinbo wurde vom Restaurant unterstützt.

 

#4 Bricole (Berlin - Prenzlauer Berg)

 

„Hübsch, die kleine Schenke!“ denke ich, als ich vor dem Bricole auf meine Begleitung und darauf warte, dass mich doch noch ein Model-Agent für Kinderbekleidung entdeckt. Beim Versuch mich possierlich in Szene zu drapieren, werde ich allerdings Opfer dieser Wimpel-Fähnchen an den Fahrrädern der vorbeieiernden Prenzlauer-Berg-Kinder, die mir mit einer Wedel-Amplitude von 1,5 Metern und dieser reißfesten LKW-Plane ins Gesicht klatschen. Die Entscheidung doch schon einzutreten, war eine gute: Rechts prostet mir Brigitte Bardot charmant zu, daneben eine sexy Lampe aus dem Palast der Republik. Links gestapelte weiß lackierte Holzbohlen, darüber säuberlich aufgereihte Weinflaschen. Schnieke. Hier kann ich meine Wunden verarzten.

Als Starter gibt es Brot mit außergewöhnlichem Fluffigkeitsfaktor, auf das wir zentimeterdick die angereichte Karamellbutter mit geröstetem Sesam streichen. Dazu begleitet uns ein alkoholfreier Aperitif in Form einer unschuldigen Gin-Tonic-Variante geduldig zur Vorspeise. Die ist pures Instagram-Gold. Der einzige Unterschied: Der Teller glänzt nicht in narzisstischer Abwesenheit von Inhalt, sondern lässt einen an seiner Komplexität genesen. Ein schmelziges Parfait aus nussiger Entenleber plätschert zusammen mit einem gebackenen Tramezzino und gehaltvollem Birnen-Thymian-Eis im fruchtig-sauren Cassis Estragon-Sud, der nicht intensiver sein dürfte. Um die unerbittliche Hauptgangdichte abzukanten, wird Belper Knolle – ein Schweizer Hartkäse - on top gehobelt. Abgestopft und zwangsvergrinst lehne ich mich zurück und hechele: „Leute, das war doch erst die Vorspeise!“. Da das Gericht den ersten Tag auf der Karte steht, wird die Portionsgröße angepasst – alle, die nach uns kommen, werden also mit reduziertem Hauptgangsselbstbewusstsein konfrontiert. Geschmacklich zeichnet sich ab: Wer’s

krachend mag, ist im Bricole richtig.

Gestartet als Vorspeisenbar hat sich das Konzept seit 2017 radikal weiterentwickelt, keine Amuses oder Pralinen, dafür aber knallende Vollmundigkeit durch-gängig! Nachdem andere seine Eigenschaften zu fördern und er sie zu nutzen wusste, dauerte es von der Idee bis zur Eröffnung nur 6 Monate für Fabian Fischer - ohne einschlägige Ausbildung, jedoch mit Borchardt – und Grosz-Background -, um sein tiefendemokratisches Restaurant zu eröffnen. Menschen und Essen werden hier nämlich gleichrangig behandelt, so heißt es auf der Website und tatsächlich gibt es kein durchdekliniertes Menü. Das Bricole bietet 3 Kombinationsvorschläge (darunter ein vegetarischer), die von den Gästen 3- bis 5-gängig hemmungslos miteinander verdongelt werden können.

Im Gegensatz zur Vorspeise erreichen uns Hauptgang und Dessert perfekt proportioniert. Der Hauptgang erschien in der Harmonie vorhersehbar. Ich war gespannt, was Küchenchef Steven Zeidler aus eher blassen Aromen von Gurke und Lachs herausholt. Der angebeizte Ikarimi-Lachs mit cremig-eingedicktem Zitronen-Gurkensud und die gebackene Zucchini mit crunchiger Senfsaat überraschen durch eine unerwartete Umami-Verdichtung. Die eher klassische Kreation zeigt sich zwar produktfokussiert, aber bespielt durch die reduced-to-the-max-Variante eine eigene Liga. Während der Hauptgang sehr befriedigend, aber in seiner Tiefe nach einem Löffel erschmeckt war, zeigt sich die Belastungsprobe Dessert etwas aufregender. Mit einer Texturvielfalt von cremig bis crunchig wird die Valrhona-Schokolade von Zeidler gnadenlos auseinandergenommen. Besonderen Erinnerungswert hat das Triptychon aus cremigem Mousse, knackigen Biskuits und hauchzartem Gel, das von Brombeeren und mit weißer Schokolade ausgebackenem Quinoa flankiert wird. Der kleinteilige Aufbau schmälert hierbei keinesfalls die Qualität eines schokoladigen Harmoniebömbchens. Very eatable.

Zum Dessert empfiehlt Fabian den 2013er Portwein von Graham’s, der beharrlich zur Gefäßerweiterung bei simultaner Wahrnehmungs-Verengung beiträgt. Das Trinkernäschen vernimmt Schokolade und Cherry, was die Valrhona stimmig ergänzt. Meine Mitesserin brütet aktuell neues Leben in ihrem Leib aus und lächelt tapfer über ihrer alkoholfreien Dessertbegleitung. Sie schielt wiederholt auf die Portwein-Flasche und brubbelt irgendwas von „Du wirst im Übrigen schon mit Erbschuld geboren, Freundchen!“ Richtung Baby-Bauch. Bei mir setzt derweil erleichternde Versumpfung ein. Entrückten Gesichtsausdrucks schiele auch ich wiederholt auf die Graham‘s-Flasche, bis Fabian empathisch fragt, ob ich sie mitnehmen mag. Höfliche Abwinkbewegung meinerseits - ich bin schließlich sehr gut erzogen, ärgere mich auf dem Heimweg dennoch, dass ich sie nicht doch zur Verteidigung vor Fahrradwimpel-Kindern angenommen habe.

Was denken Sie denn von mir? Selbstverständlich hätte ich den Inhalt vorher ausgetrunken - Portwein-Flecken lassen sich denkbar schlecht aus Fahrradwimpeln entfernen.

 

Geschmackssinniges, Oktober 2019.

 

Bricole

Senefelder Straße 30

10437 Berlin

 

http://www.bricole.de/

 

Menü:

3 Gänge 37

4 Gänge 46

5 Gänge 54

 

Mein Besuch im Bricole wurde vom Restaurant unterstützt. Dankeschön an Fabian Fischer.

 

 

#3 Vox-Restaurant (Berlin - Tiergarten)

 

Mal wieder eine beträchtliche Summe in der Spielbank erpokert und keine Ahnung, wie diese nun zeitnah in guten Whisky anlegen? In solchen Fällen verlasse ich mich auf die VOX-Bar am Potsdamer Platz. Die Nähe zum Casino ist hierbei nicht der einzige Grund: Eine Whisky-Auswahl von klassischen Canadian-Gebolzen über Blended-Scotch-Varianten bis hin zu aufregenden Rye-Whiskey - Nackenbrechern und die sexy Ledersessel, in die man sich behaglich plumpsen lassen kann, sind der wahre Beweggrund. Eigentlich habe ich auch gar nicht beim Pokern gewonnen, aber mit dieser Vorstellung lässt es sich souveräner an dem geschmacksbefreit beleuchteten Weihnachtsbaum vorbeistolzieren (im September!), der uns im Foyer des Grand Hyatt entgegenschrillt und an dem man vorbei muss, um zart verstört in besagtes Whisky-Refugium zu gelangen. Wer promille-wise lieber etwas niedrigschwelliger starten möchte, kann sich mit der Premium Sake Selection schon einmal auf die Weiterführung des Abends im benachbarten VOX-Restaurant einstimmen. Mein kulinarisches Wohnzimmer versorgt mich seit einigen Jahren unbeschlipst im Gestus, aber robust in der Qualität mit japanisch-inspirierten Strebertellern.

 

Sie: „Ich habe ein paar deiner Artikel gelesen. Du brauchst intelligente Leser*innen.“

Ich: „Ich weiß. Die hab‘ ich. Vor allem braucht es intelligente Mitesser*innen.“

Sie: „Die bin ich.“

Sie grinst.

Ich schmunzle.

Klirr. Klirr.

 

Sie Martini Bianco, ich Bellini aus Champagner und Pfirsichpüree. Beides passt super zur synchron bestellten Vorspeise:

Die Sommerrolle ist gefüllt mit grüner Papaya, Gurke, Karotte und Thaibasilikum. Das Ganze liegt in einer Reisessig-Marinade mit Zitronenöl und Koriander. Man weiß nicht nur die geschmacklichen Eigenschaften zu einem asiatisch-frischen Konglomerat zu kombinieren, die froschgrüne Farbe des Suds macht zudem Spaß auf der Netzhaut. Die salzig kandierten Erdnüsse erzielen wenig Effekt, stören aber auch nicht.

Auf Hauptgangebene werde ich mit einem neuen Konzept überrascht, das einem Mündigkeit und Würfelspielfreude zurückgibt – die Hauptspeisen können neuerdings mit Gemüse - und Sättigungsbeilagen frei kombiniert werden. Erfrischend und zugänglich in Zeiten zugespitzt strenger Menüfolgen in den Fine-Dining-Kultstätten der Stadt. Stilistisch finden sich asiatische Komponenten zwar überall wieder, kommen aber ohne Zwangsläufigkeiten aus. Für den Geprängefaktor wird Wasabi zum Überraschungs-Zwischengang standesgemäß auf Haifischhaut am Tisch gerieben (und dazu bekommen wir auch noch 10 Jahre alte Sojasoße zu den wegsnackbaren Sushi-Röllchen gereicht), aber es kommentiert auch niemand mit gekräuselter Oberlippe, wenn zum Süßkartoffelstampf Trüffelpüree und Kartoffeln gewählt werden. Das fetzt! Ich kombiniere mein von Ponzuzwiebeln flankiertes, zart- aber nicht flachbrüstiges Maishähnchen mit erdigem Seetang-Salat, scharf-kitzelndem Wasabipüree und harmonisierendem grünem Spargel mit Chili und Koriander und erlaube mir über meine Komposition einen kurzen Chestbump-Moment. Die perfekt austarierten Einzelkomponenten werden von der High-End-Umami-Walze ausgleichend zusammengezurrt, die sich als schwere, beinahe Gel-artige Jus behutsam um die Gabel legt. Dieser Teller lässt mich taumeln und das war hier bisher eine Konstante – wo doch die Hauptgänge vielerorts die eher konfettibefreiten Geradliner sind.

Das Dessert wird als schokoladige Kugelstoßmurmel verkleidet an den Tisch geräumt und angießenderweise von warmer Kakao-Kokos-Soße in die Knie gezwungen. Darauf eröffnet sich ihr Innenleben wie ein kulinarisches Wimmelbuch: Die VOX-Schokoladenkugel ist gefüllt mit einem Kakaobohnenbiskuit mit erhöhtem Fluffigkeitsfaktor. Banane und Passionsfrucht steuern die Frucht-Freshness bei und das Kokossorbet sorgt für belebende Gaumenkühlung. Die Kombination aus Schoko, Kokos und Frucht bleibt kompositorisch ein klassisches Dreierlei und somit in Puncto Raffinesse kein gefallsüchtiger Ranschmieger, aber die instagramtaugliche Hülle sorgt für erhöhte Niedlichkeitswerte und beweist kunstfertiges Handgeschick.

Während opulente Blumenbouquets aus weißen Orchideen versuchen, über den durch die Glasfront noch immer unangenehm auffallenden Leuchte-Kitsch-Weihnachtsbaum hinwegzutäuschen (ich frage mich, ob das Grand Hyatt eine auffällig hohe Rate an Epilepsie-Anfällen in der Lobby verzeichnet?), trinken wir als Digestif mittlerweile beide Martini Bianco:

 

Sie: „Ich bin schon gespannt auf deinen Artikel.“

Ich: „Weißt du, ich hatte eine gute Deutschlehrerin.“

Die Deutschlehrerin grinst.

Ich schmunzle.

Klirr. Klirr.

 

Geschmackssinniges, September 2019.

 

Vox Bar & Vox Restaurant

Marlene-Dietrich-Platz 2

10785 Berlin

 

https://www.vox-restaurant.de

 

Mein Besuch im Vox Restaurant wurde vom Restaurant unterstützt. Dankeschön an Max Gerweck.

 

 

#2 Dae Mon (Berlin - Mitte)

 

 

Die gastronomische Heilanstalt Dae Mon vermag uns geplagt von jedweden optischen so auch geschmacklichen Nervenleiden ins Lot zu salben. Die ganzheitliche Behandlung lässt Wortsportler*innen am doppelbödigen Namen genesen. Die Kunst von Tina Winkhaus tackert die abgelöste Netzhaut müder Großstadtaugäpfel wieder an die rechte Stelle und die Verpflegung auf Station vertreibt die psychotischen Dämonen aller von Lustseuchen Behafteter.

 

Anstaltsleiter Stefan Reinhardt kümmert sich herzergreifend um alle kulinarischen Patient*innen an diesem heilsamen  Ort, dem Tor (Dae) zum Monbijou-Park (Mon). Jedes Palmenblatt im Blumenbouquet, das hier wöchentlich von „Amari“ aus der Schivelbeiner Straße eingeliefert wird, scheint er einzeln nachzupolieren. Noch nie hat jemand mit so ehrlicher Verletzlichkeit vor mir gesessen und gedruckst: „Wirklich… Also wenn du jetzt etwas Schlechtes schreiben würdest, das…also…das tät‘ wirklich weh.“ Die Information, dass ich nie Verrisse, nur Begeisterungswürdiges beschreibe und bei Nichtgefallen später wiederkomme, um zu schauen, ob der gastronomische Wachstumsschmerz überwunden ist, wirkt als nebenwirkungsfreies Beruhigungsmittel. Wir können also mit der 3-Gänge-Vollverpflegung beginnen:

 

Ein Apotheken-Tütchen Popcorn mit Furikake-Shiso-Gewürzmischung leitet die kulinarische Rekonvalenszenz ein und verweist augenzwinkernd auf die koreanisch-japanischen Inhaltsstoffe, die nicht als Antibiotika-Keule sondern in homöopathischen Dosen in Raphael Schünemanns Open-Minded-Cuisine-Kur enthalten sind.

 

Die Vorspeise hat Spontanheilungspotential. Gegrillter Oktopus, Pfirsich, gesalzene Macadamia. Die Macadamia gilt als Königin der Nüsse. Ihre Überlegenheit stellt sie  vor allem in puncto Nährwerte unter Beweis. Zupackend legt sie uns eine Nährstoffinfusion und stärkt zusammen mit der Vitamin-C-Lieferantin in Form erfrischender Shiso-Zitronenvinaigrette unser Immunsystem. Der Pfirsich hatte sich derweil aus seinem Kinderzimmer geschlichen und wurde beim Rauchen erwischt – da sein Raucharoma sowohl die eigene fruchtige Knalligkeit als auch die dichte Umami-Note des Oktopus interessant auffängt, wird hier auf eine Verhaltenstherapie verzichtet und das pubertäre Treiben auf dem Teller sich selbst überlassen.

 

Auf dem Weg zum Narren-Abort kreischt mich ein pinker demolierter Mercedes aus Winkhaus' „Camp-it-up“-Serie prollig an und befragt tiefenpsychologisch die Luxusbestrebungen der von der tragisch-verbeulten Karosserie-Ikone getroffenen Vorbeihumpelnden. Hedonist*innen erfrieren in plastischer Pose und werden noch im bekerzten Notdurft-Tempel grübeln, ob Statussymbole die seelischen Beschädigungen zu heilen vermögen.

 

Zurück aus dem Narren-Headquarter geht es weiter mit dem Hauptgang: Für mich gibt’s Schonkost – Pastinaken-Rübe ab und rauf auf den OP-Teller mit der verdickten Hauptwurzel. Dazu  anästhesieren Blumenkohlpüree, Rettichgemüse und Perlzwiebeln. Zur körperlichen Ertüchtigung trägt besonders die Jus aus Melone bei, die mich an der Theke stramm stehen und nach der Zubereitung fragen lässt. So viel Umami aus Melone? Die schwindeln doch! Schünemann verrät die gefühlt 189 Zutaten der Geheimrezeptur in 3 Sekunden. Sie soll offenbar geheim bleiben, sonst bleibt ihre Wirkung nur noch dem Placebo-Effekt überlassen.

Vollkost für die Begleit-Dame, die medium well gegartes Rinderfilet vom Smoker, Süßkartoffelcreme und ein rotbäckiges Dreierlei der Beete aus knackigem Cube, Biset und purem Miniatur-Gemüse als Formel für die Gesunderhaltung gewählt hatte und mit soliden Blutdruckwerten ihren Teller anlächelt.

 

Der Blick auf das großformatig-komponierte Abendmahl aus traurigen Scherzbolden demaskiert derweil und kuriert gleichsam jede aufflammende Clown - Phobie. Die Sache mit meinem Tina-Winkhaus-Groupietum sollte ich bei der nächsten Visite vielleicht erwähnen - da gibt’s doch sicher was von Artiopharm. Bis dahin wärmen die herausfordernden Werke der Exzentrikerin als stützendes Korsett die entdrahtseilten Nervenfasern ästhetiksuppressierter Stadtbeton-Beäugelnder.

 

Als Dessert gibt’s den Carotinoid-King from nose to tail: Kürbis als erfrischendes Chutney, als saftig-fluffigen Kuchen und in Form von knackigen, säuerlich eingelegten Streifen, deren Intensität vom Jogurteis im Zaum gehalten werden. Das Mineralstoff-Bömbchen reiht sich mit beinahe kalorischem Nullwert behutsam in unsere Dae Mon – Diät, die man bei Bedarf auf 7 noch elaboriertere Gänge ausweiten kann oder in waghalsiger Selbsttherapie à la Carte zusammenwürfeln darf.

 

Meine Diagnose: manisch-progressives Kunst-Nahrungsmittel-Verschränkungs-Syndrom.

 

Bevor Sie sich nun wund lesen, reservieren Sie bitte rückenstark einen Tisch.

 

Geschmackssinniges, September 2019.

 

Monbijouplatz 11

10178 Berlin

https://dae-mon.com/

 

3 Gänge 49

4 Gänge 60

7 Gänge 89

 

Mein Besuch im Dae Mon wurde vom Restaurant unterstützt. 

 

#1 Restaurant Lagalante (Berlin-Schöneberg)

 

 

Nie wieder Schöneberg!

Das hatte ich mir vorgenommen, nachdem mein letzter Abend im Lagalante wohlgenährt in der fußläufig entfernten Salut Bar endete, wo ich mir getragen von naiver Gutgläubigkeit an diesen aufgeräumt-pittoresken Bezirk einen „Green Dream“ bestellte. Der verwendete Weed-infused Gin sorgte zusammen mit meiner inneren Abneigung und Unbegabtheit in Bezug auf jedweden Drogenkonsum für nächtliche Fluch-Eskapaden. Grobschlächtig über die ignorante Fahrlässigkeit des Barpersonals im Umgang mit illegalen Drogen und folglich der völligen Verachtung der Menschenwürde (Und das in Schöneberg! Einem Bezirk, in dem nur vernünftige Leute wohnen!) lamentierend, rohrspatzte ich lautstark um die Apostel-Paulus-Kirche. Von den gentrifizierten Balkonen nur ein gelangweiltes Hochschauen vom Rotweinglas, bevor man sich wieder behaglich an die Premium-Paradise-Garten-Lounge-Sitzgarnitur schmiegte. Der Abend endete mit einem sichtlich verunsicherten Taxifahrer, einer Verbrennung zweiten Grades an der linken Hand und dem besten Freund, der bis in die Morgenstunden meine hochphilosophischen Ergüsse verständig abnickte. Abnicken musste. Aber das wollte ich ja gar nicht erzählen...

Wie es sich für seriöse Restaurantkritikerinnen gehört, absolvierte ich meinen Besuch im Lagalante dieses Mal ausnahmslos nüchtern. Dabei half mir „San Bitter“ – die alkoholfreie Vollfrucht-Variante des Aperols aus Norditalien, die ich an dieser Stelle ausdrücklich empfehle.

 

Als Gruß aus der Küche erreicht uns der italienische Fladenbrot-Klassiker Foccaccia in Form eines herzeigbaren Bagels mit zart zerfließender Burrata, frischen Feigen und luftgetrocknetem Capocollo. Optisch und kompositorisch ein kreativer Start. Dazu werden uns die typisch italienischen Hackbällchen „Polpette“ gereicht, die uns als vegetarische Brot-Petersilie-Parmesan-Variante überraschen.

 

Die Vorspeise zeigt sich produktfokussiert: solider Dickbohnenpüree schafft eine ausgleichende Basis, während die pochierten Austern und süßen Zwiebeln selbstbewusst nach vorn preschen. On Top haben‘s sich Löwenzahnblätter gemütlich gemacht, die sich allerdings eher als kulinarischer Beifang herausstellen. Wer auf Meeresgetier steht, wird bei diesem Gang dennoch in frühkindliche Begeisterung verfallen.

 

Restaurantinhaber Antonio Lagalante, der sich mit der Eröffnung 2017 den großen Traum vom eigenen Restaurant erfüllt hat, stammt genau wie die Pasta des Hauptgangs aus Apulien: Feine Orecchiette-Öhrchen und frittierter Brokkoli – beides auf den Punkt al dente - dazu faserig-cremiger Stracciatella-Käse und frittiertes Brot, das - wie Kellner Alberto erklärt - in Italien als Käse „für arme Leute“ gilt. Besonders bemerkenswert an dieser Stelle: die an diesem Abend mehrmals an den Tischen anhaltenden Straßenfeger-Verkäufer*innen werden hier nicht – wie oft in Restaurants beobachtet – weggejagt, sondern Alberto nimmt sich trotz eines rauschenden Samstag-Abend-Geschäfts zwischen Weinbestellungen und Teller zu den Tischen wirbeln immer wieder Zeit für ein kleines Gespräch mit ihnen.

 

Schon etwas angeschlagen von den wohlportionierten, aber doch recht mächtigen Gängen schickt uns die Küche ein Dessert aus luftigem Blätterteig mit erfrischendem Zitronenpudding und süßen Amarenakirschen. Nicht zu schwer und nicht zu süß - ein schlichter, aber eleganter Abschluss. Den lässt's sich in so einer spätsommerlichen Nacht noch souverän auf den Gartenstühlen vor dem Restaurant genießen, während man entrückt schauende Paare mit vom Rotwein lahmgelegten Zungen an den Nebentischen beobachten kann. 

 

Satt und zufrieden entließ uns das Lagalante in die Schöneberger Nacht. Als ich unter den gentrifizierten Balkonen entlang ging, zog ich den Mantel Richtung Nase und schob die Sonnenbrille ins Gesicht. Die Straßenlaternen sind aber auch grell hier in Schöneberg...

 

Geschmackssinniges, September 2019.

 

Lagalante Ristorante

Grunewaldstraße 82

10823 Berlin – Schöneberg

 

http://www.lagalante-restaurant.de/

 

Mein Besuch im Lagalante wurde vom Restaurant unterstützt.

 

Solange du deine Beine unter Billy Wagners Theke stellst, wird gegessen, was im

Nobelhart & Schmutzig auf den Tisch kommt !

 

Nobelhart & Schmutzig (Berlin-Kreuzberg)

 

Keine Kameras, keine mobilen Endgeräte, keine Waffen, keine AFD und außerdem solle man mehr Fett essen. Durch Aufkleber an der Tür wird auf das im Nobelhart & Schmutzig geltende Regelwerk verwiesen. Ich nicke zustimmend und betätige die Klingel.

 

Wer hat Angst vor’m Schnurrbart-Mann?

Der sommersprossig-schnurrbärtige Gastgeber mit dem rot pigmentierten Haar gewährt uns Einlass. Billy Wagner presst keine standardisierten Satzfragmente verstocksteifter Höflichkeit hervor, sondern bringt uns ergebnisorientiert zu unseren Plätzen. Er eilt sogleich mit einem Schaffell und den Worten: „Für die Dame…!“ herbei. „Die Dame“ antwortet darauf: „Ach, das geht so. Die dichte Rückenhaarpracht wird das Anlehnen behaglich dämpfen.“ Er guckt mich irritiert an, ich grinse, er grinst. Wir werden uns heute Abend gut verstehen. Auf die Frage, ob ich wirklich keine Fotos machen dürfe, schließlich wollten die Leser*innen ja sehen, worüber ich schreibe, bekomme ich ein kurzes „Es wäre schön, wenn du es nicht tätest.“ Ich knalle die Hacken zusammen und schmunzle über Wagners Kompromisslosigkeit. Ein gewisser Grad an Renitenz in Bezug auf die Auswüchse konventioneller Lebensführung scheint mich auf angenehme Art und Weise mit diesem Etablissement zu verbinden. Es geht nicht um eine Haltung des „stets dagegen sein“, aber es stehen Fragen im Raum wie „Wer sagt das? Wo steht das? Und zu welchem Zweck halten sich alle daran?“ Wenn ich keine zufriedenstellenden Antworten auf diese Fragen finde, hinterlassen Konventionen stets eine klaffende Ratlosigkeit bei mir. Das Nobelhart & Schmutzig bietet an dieser Stelle einen Alternativentwurf zu staubüberzogenen Fine-Dining-Gepflogenheiten, dem ich mich verständig einlenkend fügen kann.

 

Fass‘ dein Essen mal wieder an!

Eine solcher Gepflogenheiten ist der Glaubenssatz „Mit Essen spielt man nicht!“, den ich bisher anstandslos hingenommen hatte. In meinem Kopf gab es eine diffuse Begründung einer wertschätzenden Grundhaltung gegenüber Lebensmitteln oder Personen, die sie für mich zubereiten. Als ich jedoch die Kinder meiner Freundin kürzlich dabei beobachtete, wie sie ihr Essen nach vorangegangener haptischer Entdeckungsreise - es wurde eingerollt, dran gerochen, hochgehoben, fallen gelassen, angegrabbelt, zusammenquetscht, angeleckt, in den Mund gestopft, wieder herausgezogen – am Ende genüsslich verdrückten, dachte ich nur verblüfft: Wie sinnlich und natürlich Kinder mit Essen umgehen. Wie sie durch ihren unbefangenen Antatschdrang ein Gefühl für Temperatur, Textur und Konsistenz ihrer Nahrungsmittel bekommen. Als ich nun selbst die knackig blanchierten Spargelstangen zwischen die Finger nahm, abbiss, das warm-schmelzige Leindotteröl mir die Finger entlang triefte und ich diese anschließend genussvoll abschleckte, empfand ich das zivilisatorisch unbelastete Essensgegrabsche im Nobelhart & Schmutzig als äußerst nachahmenswert und war fast enttäuscht, als uns bei folgenden Gängen doch wild zusammengewürfeltes Besteck hingestellt wurde. An dieser Stelle mit der Regel „Fass‘ dein Essen mal wieder an“ noch strenger zu sein, hätte ich durchaus reizvoll gefunden, vor allem hätte es mich sichtlich erheitert, die anderen Gäste dabei zu beobachten, wie sie den buttrigen Kartoffelpüree in den Mund befördert hätten.

 

Lokale Brutalinskis lassen mich in 10 Gängen zielbewusst in die High-Waist-Hose hineinschwellen

Man macht’s sich gemütlich in der schaffelligen Peripherie rund um den U-förmigen Tresen. Zwischen den Gängen des 10-Positionen-Menüs können zugerümpelte Gehirne wegen der durch Smartphone-Abwesenheit unterbundenen Lebenszeit-Verdaddelei in einer untätigen Blase herumschlingern, um sich ablenkungsfrei mit der eigenen Sterblichkeit zu befassen oder ihr Gegenüber ohne auf’s Display schielende Aufmerksamkeitsheuchelei auszuhalten. Dazwischen wird wie folgt gegessen:

Wir werden mit dem türkischen Jogurt-Salz-Klassiker Ayran begrüßt – ein brutal-lokaler Augenzwinker-Verweis auf den Standort des Restaurants im Kreuzberger-Abschnitt der Friedrichstraße. Der Brotgang weist Erinnerungswert auf: Florian Domberger, den neben der großen kulturellen Bedeutung von Brot für Deutschland auch sein persönliches Fanboy-Dasein für hochwertiges Brot veranlasst hatte, sich auf einem langen beruflichen Asien-Aufenthalt Brot von zu Hause schicken zu lassen, backt jetzt seine eigenen Brötchen im Domberger Brotwerk. Davon gibt er freundlicherweise ein paar Lichtroggen-Sauerteig-Varianten ans Nobelhart ab und findet, dass die auch gut ohne Hefe auskommen. Die Tatsache, dass Lichtroggen so heißt, weil es sich bei diesem Korn um die Rückkreuzung zu einer leichten Ur-Variante des Roggens handelt, könnte für Sie, liebe*r Leser*in, wertvolle Wizzensquiz-Sachkunde für Fragen erhöhter Preiskategorie bedeuten. Die selbstgemachte Butter, die Wellen der Begeisterung über mir zusammen schlagen lässt, wird aus frischer Sahne von David Peacocks Kühen hergestellt (also die Kühe liefern die Sahne, die Nobelharts basteln daraus Butter), die friedlich auf dem Erdhof Seewalde grasen. Bei 37 Grad wird sie über Nacht mild angesäuert und am nächsten Tag mit 1 Prozent Salz überschlagen. Wir bekommen zwei Varianten: eine vom Dezember 2018, bei der man schon an der weißen Farbe erkennen kann, dass die Kühe lediglich Heu als Nahrung bekommen haben. Es fehlen hier nämlich die Vitamine und Enzyme des frischen Futters, die die Butter vom Mai 2019 entsprechend gelblich erscheinen lassen.

Ich begrüße den nächsten Gang in der Tonlage einer 13-Jährigen mit erhöhten Blutzuckerwerten als ich erkenne, dass der bereits erwähnte Spargel, der vom Perleberger Landwirt Rainer Guhl ohne Heizung, ohne Dünger und ohne Folie hochgepeppelt wird, mit meinem Lieblingswildkraut Knoblauchsrauke garniert wurde. Die Kreuzblütlerin siedelt sich meist an schattigen Wegesrändern an, um dort mit ihrer rote-Quaddeln-bildenden Kollegin Brennnessel abzukumpeln und dabei gleichsam darauf zu warten, von Knoblauch-Fans abgeerntet zu werden. Als ich vor Jahren als Studentin nach 8 Stunden Wald- und Wiesen-Geschlender begann, die zu bestimmenden Pflanzen einfach aufzuessen, hat mir der pfeffrig-knoblauchartige Geschmack dieser Wildkraut-Perle den Spaß am Botanik-Studium erhalten. Sie nun als hübsch drapierte Gallionsfigur auf dem Spargel wiederzusehen, lässt mich in nostalgischer Demut versinken.

Plötzlich ist die Hintergrundmusik weg. Billy Wagner stapft zum Plattenspieler, dreht die Platte um, setzt den Tonabnehmer würdevoll in die Rille und weiter geht‘s mit 60er-Jahre-Klassikern. Von der langen Theke aus haben wir das konzentrierte Küchen-Geschehen im Blick. Hier lässt man sich gern vom Küchendunst die Poren verstopfen und da kommt auch schon das pouchierte Ei. Es lässt sich von voluminösen Lindenblättern korpulent umgarnen, die ihre kulinarische Verwertbarkeit beweisen, in dem sie sich zuvor in Butter soutieren ließen. Die Senfsaat cruncht dazu in Feuerwerksmanier im Mund herum und sorgt für würzige Highlights auf der Zunge.

Radieschen gehören jetzt nicht gerade zum mehrheitsfähigen Kultgemüse, können sich in der Michael-Schäfer-esken Interpretation indessen sehen lassen. Grete Peschkens Radieschen, die man der Acker-Queen zusammen mit anderem Gezücht samstags in der Markthalle 9 abgaunern kann, kommen gegrillt mit Gundermann und krachend-chlorophylliger und mit Butter aufgemixter Petersiliensoße an den Tisch und positionieren sich als beachtenswerter Zwischengang.

Im Nobelhart & Schmutzig geht es weder um Sterneküchen-Türmchenbau, noch um die Flüssig-Stickstoff-Pustewolke, die beim Abheben der Glosche in den Raum wabert. Durchdacht, aber puristisch werden hier Produkte aus der Region verarbeitet. Die Qualität gibt den ChiChi-Verzicht vor und überzeugt in allen 10 Gängen des Mai-Menüs.

 

Kein Ort für fehlplatzierte Gesundheitsrücksichten

Wer aufgegessen hat, darf bleiernd an der Bar versacken. Wir sind mürbe gefüttert. Haben die letzten Gäste ihr Dessert vertilgt, ändert sich schlagartig die Atmosphäre. Gewissenhaft wird über die Industrielampen gewischt, Gläser geräumt, Zettel sortiert, Licht aus, Schnaps an, plötzlich Bar. Niemand weiß, was zwischen Restaurantbetrieb und Flaschenstillstand in Billys Amüsierstübchen schon Schmutziges geschehen sein mag, aber alle sind sich vermutlich einig, dass man vor 6 Schnäpsen hätte gehen sollen. Wenn die Überforderung urbaner Postmoderne an den Nerven zerrt, findet man an dieser Theke einen verständnisentgegegenbringenden Ort. Unvornehm frage ich nach Gin, meine Begleitung nach Espresso: „Ham wa nich! Aber wir können dir Wacholderschnaps anbieten und dir einen unserer speziellen Kaffees.“ Das ist hier keine demokratische Veranstaltung mehr. Man sollte tun, wie einem eingeraten. Es schleicht sich die leise Ahnung an, dass Beschwerden oder Extrawünsche von standesdünkelbehafteten Gästen vom Dieter Bockhorn des Nobelhart & Schmutzig und seinen fleißigen Jünger*innen ausdrücklich als vernachlässigbar eingestuft werden. Die Bevormundung der Nobelharts hat allerdings auch ein wärmendes Aufgehobensein im Ritus zur Folge. Man muss einen Abend lang keine Entscheidungen treffen in einer pluralistischen Welt. Lässt man sich darauf ein, stellt sich ein behagliches Arbeitstrinken ein, mit dem man - breitbeinig auf den Barhockern lümmelnd, die Ellbogen unfletig auf den Schenkeln abgestützt - planvoll öder Freudlosigkeit begegnen kann. Wenn Sie sich also gern einmal auf Weltenflucht begeben und dabei neben ehrlichem Essen auch noch eigenwillige Destillate und selbstverständlich bedacht ausgesuchte Weine genießen möchten, reservieren Sie umgehend im Nobelhart & Schmutzig. Sie werden es lieben. Oder nicht.

 

Wer wissen möchte, was Billy Wagner über weibliche Genitalien, schlechtes Essen und exzessbefreite Selbstoptimierung denkt, klickt sich besonnen rüber zu den Fragegesprächen.

 

Geschmackssinniges, Mai 2019.

 

Nobelhart & Schmutzig

Friedrichstraße 218

10969 Berlin - Kreuzberg

 

https://www.nobelhartundschmutzig.com/

dubist@nobelhartundschmutzig.com

 Tel: +49 30 259 4061 - 0

 

10-Gänge-Menü inklusive Wasser:

95,00 Euro EUR (Dienstag, Mittwoch)

120,00 EUR (Donnerstag, Freitag und Samstag)

 

Mein Besuch im Nobelhart & Schmutzig wurde vom Restaurant unterstützt.

 

 3 Kinder, 2 Hunde, 2 Katzen, 1 Pferd und ein bisschen Levante in Charlottenburg

 

Prism  (Berlin - Charlottenburg)

 

Was würden Sie tun, wenn Sie 3 Kinder, 2 Hunde, 2 Katzen und ein Pferd hätten? Korrekt. Ein hübsches Wohnzimmer-Restaurant in der City-West eröffnen. Das Beinahe-Husband-and-Wife-Team Jacqueline Lorenz und Gal Ben-Moshe (geheiratet wird irgendwann, wenn mal keine Reservierungs-Mails zu beantworten sind) bieten 24 Gästen eine minimalistisch-geschmackvolle Wohnzimmeratmosphäre: anthrazite Wände, zurückhaltendes Interieur, ein warmes Beleuchtungskonzept, bodentiefe Fenster mit Blick auf die selbstvergessene Charlottenburger Fritschestraße, die sich als beschaulicher Nebenarm demütig dem Kantstraßen-Rummel entzieht.

Ob ich schon einen Aperitif möchte, während ich auf meine Mitesserinnen warte, fragt mich der Australier Hamish, der uns an diesem Abend hochmotiviert mit ambitionierten Drinks umsorgt. Er meint, ich könnte doch jetzt schon einen nehmen und wenn ich schnell genug wäre, würde niemand etwas bemerken…

 

„So did you have a good week?“

 

„Well, a lot of work actually. I’m glad to be here now.“

 

„What are you doing?“

 

„For my main job I’m working as a teacher. Apart from that I’m quite busy eating and writing about it.“

 

„That is to say, you’re pretty much working all the time.“

 

„I’d probably take a Martini!“

 

Wir müssen lachen. Der israelische Gin erlöst mich von Hamishs entwaffnender Feststellung und verweist geografisch schon einmal auf das Spektakel, das sich in der Küche abspielt. Der gebürtige Israeli und Küchenchef Gal Ben-Moshe bastelt im Prism levantinische Aufgeregtheiten zusammen, die keiner Traditionslinie folgen, sondern sich mit avantgardistischer Eigensinnigkeit auf die Teller drängeln. Restaurantleiterin Jacqueline Lorenz erzählt uns, es gäbe keine wilde Geschichte zum neuen Namen „PRISM“, aber ein Blick hinter die automatische Schiebetür in die Küche offenbart die Tiefe der Symbolik: Das kleine Team erhöht mit Menschen aus Australien, Frankreich, Benin, Deutschland und Brasilien definitiv den kulinarischen Brechungsindex des Restaurants und das spürt man auf dem Teller.

Als Gruß aus der Küche begeistert uns zunächst eine spannende Aromenwelt aus dem Tartar der Jakobsmuschel mit einer Velouté aus weißer Schokolade, geröstetem Blumenkohl und salzig-herbem Ossetra Kaviar aus Israel. Wenn man seine Mitesser*innen gut leiden kann, ist im Anschluss das Prism Social – Menü zu empfehlen: Für fair ausgepreiste 55 Euro gibt es die Möglichkeit alle 8 Gänge zu probieren, die als Sharing Meal in Zweier-Teams an den Tisch kommen.

Das erste kulinarische Zweigestirn heißt „Aubergine“ und „Lakerda“. Das Auberginenfilet wurde im Ganzen über der offenen Flamme geröstet und anschließend geschält. Dazu gibt es einen crunchigen Kuchen aus der arabischen Sesampaste Tahini mit brauner Nussbutter, während sich in den elegant drapierten Gurkenröllchen traditionell Labane versteckt - das am weitesten verbreitete Milchprodukt des Nahen Osten. Auf dem zweiten Teller „Lakerda“ (der Begriff beschreibt lediglich die Haltbarmachung des Fisches) schwimmt die aromatisch schlagkräftige Gelbflossenmakrele in einem erfrischenden Mandel-basiertem Gazpacho. Augen und Geschmackssensoren freuen sich über gefrorenes Gelee vom knallend grünen Apfel, dazu grüne Mandeln und Sauerampfer. Meine Mitesserinnen grinsen bereits seit dem Amuse Geulle selig-abwesend und werden damit bis zum Dessert nicht mehr aufhören. Auch beim nächsten Tellerteam bleibt Gal Ben-Moshe experimentell und kombiniert Kalbsbries mit Ackerbohnen und Yuzu und inszeniert das Ganze auf einem Tahini-Schaum, während sich auf dem Nachbarteller der Wolfsbarsch selbstbewusst zusammen mit der arabischen Zucchini Kusa in einer Kamillenbutter spiegelt. Die Kombinationen muten etwas waghalsig an, funktionieren indessen einwandfrei. Spätestens jetzt verstummen auch die witzelnden Kommentare am Tisch, wir müssten später eventuell noch beim nächsten Dönerladen anhalten, falls das Sharing Meal nicht reichen würde.

Vor dem nächsten Gang bleibt etwas Zeit für den obligatorischen Toiletten-Besuch: Das Unisex-Klo setzt mit rosa Vorraum und blauer Toilettenkabine einen liebenswürdigen Kontrapunkt zum dunkel-eleganten Gastraum – eine sympathisch-augenzwinkernde Brechung mit der verordnenden Zweigeschlechter-Politik der meisten Restaurants. Hier muss niemensch vor dem Toilettengang komplizierte Entscheidungen über Zugehörigkeiten fällen. Ich vertiefe meine Fan-Strukturen zum Prism.

Ich bin gerade rechtzeitig zurück, als gegrillte Poularde mit geröstetem Romana-Salat und Topinambur an einem Granatapfel-Jus serviert wird. Zu diesem fruchtig-vollmundigem Gang bildet der sonnengetrocknete arabische Käse Jameed einen erdig-mineralischen Gegenpol. Ein ähnlich wundertütenhaftes Konglomerat tummelt sich auf dem Teller daneben: Die trocken gereifte Miral-Taube kuschelt sich an die französische Delikatess-Erdbeere Gariguette, ein Taubenrillettes versteckt sich im Brik-Teig und alle Komponenten planschen fröhlich in einer intensiven Erdbeer-Tauben-Vinaigrette.

Wir reden nicht mehr. Wir essen nur noch.

Es schließt sich mein persönlicher Lieblingsgang an diesem Abend an. Als Dessert begeistert die karamellisierte San Marzano - Tomate an einem hocheleganten Rosenwasser, das die Tomate nur flüchtig umspielt, dazu Rosenbiset und eine Rosen - Miso - Eiscreme. Ein Dessert wie eine Kindheitserinnerung. Nicht die Sorte, bei der man vom Klettergerüst geschubst wurde, sondern die warme Variante mit dem gemütlich-dicken Bauch. Für alle, die vom Klettergerüst direkt in die Rosenbüsche gefallen sind, sei beherzt auf’s Schlimme gepustet, allerdings bleiben wir dem Thema „Rosengewächse“ auch beim nächsten Teller  treu. Als Vertreterin erwartet uns hier die Mispel, die mit verschiedenen Texturen als Gelee, in Form von gegrillten von Pistazienkaramell umhüllten Stückchen und mit einem Mispel-Sorbet malerisch auftafelt und den Teller mit Unterstützung der karamellisierten schwarzen Oliven über die rein geschmackliche Dimension hebt.

Hamish hatte mir zu Beginn angeboten, getrost das solide Liegegefühl der eleganten Goldbänke zu nutzen, falls die Drinks zu stark sind. Da das Restaurant heute nicht ausgebucht ist, überlege ich mittlerweile ernsthaft, sein Angebot nun anzunehmen. Die Uhrzeit und unsere gute Erziehung erlaubt dem Team jedoch nach 8 filigran interpretierten Gängen die verdiente Nachtruhe, auch wenn die Herzlichkeit im Prism durchaus dazu einlädt bis 3Uhr nachts zu bleiben. Wir freuen uns schon auf den nächsten Besuch bei euch.

 

Wer noch ein bisschen mehr über das Konzept, den Levant und Gal & Jacqueline erfahren möchte, liest das Interview mit Jacqueline Lorenz unter Fragegespräche.

 

Geschmackssinniges, April 2019.

 

Mein Besuch im Prism wurde vom Restaurant unterstützt.

 

Prism

Fritschestraße 48

10627 Berlin

 

https://www.prismberlin.de/

 

Menü:

 

„Prism Social“ (8 Gänge als Sharing Meal) 55 Euro

6 Gänge 95 Euro

7 Gänge 110 Euro

8 Gänge 125 Euro

 

Weinbegleitung

Concept | 54 | 63 | 72 Euro

Weinbegleitung

Premium | 90 | 105 | 120 Euro

 

Von Kanzlerinnenschnitzeln, Honig im Whisky und niedersächsischem Understatement

 

Die Insel (Hannover)

 

Ach, Hannover. Wenn du doch nicht immer so traurig darüber wärst, dass du nicht Berlin bist. Hier ist die Welt halt noch in Ordnung. Okay, deinen Maschsee werde ich vielleicht nie so richtig verstehen, aber die Karpfen sind dick und grüßen höflich, Gerhard Schröder fragt im Edeka volksnah nach dem Schlüssel für’s Klo (es gibt Zeug*innen!) und wenn du wirklich mal genug hast vom Langweiliggefundenwerden, kannst du dir einen Drambuie Malt Whisky von Felix Mohr einschenken lassen. Der arbeitet nämlich als stellvertretender Restaurantleiter im Fine-Dining-Refugium „Die Insel" am Maschsee und hat ein ziemlich gutes Händchen für Post-Völlerei-Suff. Wer auch immer auf die Idee gekommen ist, einen schottischen Malt Whisky mit Honig zu verfeinern, bekommt von mir ein Bienchen ins Tagebuch. Äußerlich erinnert die Location eher an das Bootshaus eines piefigen Segel-Clubs, beim Betreten des lichtdurchfluteten Gastraums mit Blick auf den Maschsee löst sich allerdings jedwede Schwellenangst - uns begrüßen elegante Sitzgelegenheiten, edle Blumenarrangements und eine professionell sortierte Bar. Wir machen’s uns dann mal gemütlich.

Aus 3 Menüs (darunter das saisonale Spargelmenü) können Gänge wild zusammen gewürfelt werden – Zitat der Restaurantleitung: „Prinzipiell ist hier alles möglich!“ und genau das tun wir auch. Wir starten mit dem Gruß aus der Küche: eine zarte Garnele an einem verspielten Tomaten-Mozzarella-Küchlein, die die Qualitätslatte hochlegt. Es schließt direkt die Favoritin des Abends an: Tartar von der Fjord-Forelle auf Frankfurter grüner Soße. Die sahnedicke Spargel-Pannacotta begeistert uns mit milder Süße, den Crunch gibt’s vom Knäckebrot und unter dem akribisch drapierten Kräuterparfait überrascht uns ein kleines Wachtel-Ei mit Saiblingskaviar. Hier hat man fast das Gefühl, der Guide Michelin hätte ein Sternchen vergessen. Es folgt ein luxuriöser Ausflug ans Meer. Angießen darf ich mir den krachend-intensiven Sellerie-Gurkensud zur Auster eigenhändig, was ich in Sachen Gästeautonomie recht sympathisch befinde. Vor dem Hauptgang überfordert uns kapazitätstechnisch ein wahnsinnig leckeres Schaumsüppchen von grünem Spargel mit einer intensiven Hummerinfusion. Wenn das saftige Brot mit dem Dreierlei an Aufstrichen nicht auch noch so süchtig machen würde. Abhilfe verschafft hier der erste Kräuter-Likör des Abends, auf den wir vom Haus eingeladen werden, während das Krümel-Monsterinnen-Armageddon vor uns mit lässigem Handgelenksschwenk vom Tisch gestrichen wird. Am nächsten Tag würde schließlich die Kanzlerin zu Gast sein und nach kräftezehrender Eröffnung der Messe Hannover möchte sie ihr Schnitzel bitteschön paniert bekommen. In Puncto Lebensmittel-Upcycling erhält die Insel am Maschsee somit die Höchstbewertung von 17 Angela-Merkel-Rauten. Als Erfrischung vor dem Hauptgang erreicht uns ein spritziges Gurkensorbet mit Essigschaum und kandierter Senfsaat für den Konfetti-Effekt. Im Anschluss zahlt Spargel mit Pata Negra-Schinken, ein pouchiertes Ei und Kartoffelcreme stattlich auf’s Sättigungs-Konto ein. Wo soll das noch hinführen? Der Hauptgang schließt mit einem Medaillon vom Milchkalb zu traditioneller Spargel- und Kartoffel-Beilage klassisch geradlinig, aber auch etwas sperrig an. Dazu gibt es eine feine Morchelcreme für’s ChiChi. Handwerklich einwandfrei, aber nicht sensationell. Als Dessert eine unaufgeregte Tarte-Tatin-Variante vom Rharbarber, dazu Erdbeersalat und Sauerrahmeis. Die etwas trockene Tarte macht hier nur ein müdes Mouthfeeling und in Gänze können weder der dazugereichte Pinienkernflorentiner, noch die im März wenig saisonalen Erdbeeren über zu viel Rharbarber-Säure hinwegtäuschen, wodurch der Gang etwas in Eindimensionalität verfällt.

Die Insel am Maschsee bietet Stilbewusstsein im Deckmantel eines Bootshauses und besticht mit kreativ herausragenden Startern und Zwischengängen, während die Hauptgänge auf Nummer Sicher setzen. Die anfängliche Begeisterung beginnt nach hinten raus etwas zu eiern. So bleibt das Dessert eher gewöhnlich. Die Anpassung der Portionsgrößen wäre zumindest beim großen Menü wünschenswert. Ansonsten genießen Foodies hier solides Fine Dining ohne Trendhechelei. Hannover halt. Du willst eben auch nicht dazugehören und vielleicht finde ich dich deswegen so sympathisch.

 

Geschmackssinniges, März 2019.

 

Restaurant „Die Insel“

Rudolf-von-Bennigsen-Ufer

8130519 Hannover

Tel.: 0511/83 12 14

 

https://www.dieinsel.com/

 

Abendmenü (5 Gänge) - 98 Euro

Frühlingsmenü (4 Gänge) - 69 Euro

 

Mein Besuch wurde vom Restaurant unterstützt.

 

Es folgt eine Niederschrift über einen Speiselokalbesuch im RUTZ, der einen an niederträchtigen Tagen aufzurichten vermag:

 

RUTZ (Berlin-Mitte)

 

Es fällt mir tendenziell leichter mit selbstironischer Distanz über meine Gastro-Erlebnisse zu schreiben. Schließlich hängt der Gourmet-Szene noch immer ein elitäres Image an, das es bewusst zu entmystifizieren gilt. Bei Marco Müller fällt dieser Kunstgriff schwer. Ich kann nicht anders, als kitschig zu werden. In Zeiten, in denen ein gewisses Wettbewerbsgebaren von Küchenchefs wesentlicher als das Handwerk und die Kreativität zu sein scheint, ist Marco Müller mit seiner Gemütsruhe eine Ausnahmepersönlichkeit. Ein zarter Synästhesist, der seine Gedanken in Kreationen überführt, die Sensible berühren und Esser*innen, die ihre kulinarische Erwartungshaltung bestätigt haben möchten, zuweilen verstören. Ins RUTZ sollte gehen, wer schon etwas länger isst und es auszuhalten weiß, sich aus dem sensorischen Gleichgewicht schubsen zu lassen.

 

Der erste Gang startet ohne Machtgefälle auf dem Teller. Keine stets lächelnde Beilagenattitüde. Alles soll zusammen gegessen werden, damit es funktioniert, legt uns Gastgeber Falco Mühlichen ans Herz. Die Forelle führte ein mondänes Fischdasein im Quellwasser der größten Sickerquelle Brandenburgs. Sie stammt aus dem eigenen Teich vom Forellenhof Rottstock, bleibt naturbelassen und macht es sich in der mit intensiver Makrelensoße (3,5 Jahre im Altrömisch-Style fermentiert) marinierten Schale gemütlich. Dazu balanciert mit Molke marinierter und abgeflammter Kohlrabi aus dem eigenen Gewächshaus das gelungene Intro charmant aus. Frischer, aber komplexer erster Gang. Wir ahnen, worauf wir uns hier eingelassen haben.

Marco Müllers Gänge sind komplex, aber sanftmütig. Man wird nicht angebrüllt, man wird immer nur eingeladen. Aber auch wer sich einlässt, wird nicht jeden Gang in Gänze durchschauen. Wenn er an unseren Tisch kommt, um die ganz besonderen Gänge selbst zu annoncieren, bekommt sein warmer Blick etwas Manisches. In den Momenten verstehen Hinschauende, dass hinter dieser Stirn sehr viele Zahnräder parallel rotieren und an interessanten Stellen ineinandergreifen. Das Schöne daran? Hier treibt keine Eitelkeit an, sondern eine selten beobachtbare intrinsische Motivation, Sinneseindrücke in Gerichte zu transformieren. Wie er das Aromenbild einer ganzen Landschaft auf der Zunge entstehen lassen kann, zeigt sich beim Signature-Dish „Rindfleisch Waldboden“. 8 Wochen im eigenen Fleischreifeschrank getrocknetes U.S. Prime Beef aus Nebraska in Kombination mit Haselnuss und fermentiertem Pilzsud. Dazu ein Geäst aus Kerbelstilen mit Kiefernasche, Moos - und Fichtenspitzen. Die volle Geschmackswucht Umami, Säure, Frische und Erdigkeit, alles vom Aromen-Jongleur perfekt austariert.

Dennoch sind die richtig guten Sachen ja oft die einfachen. Kohl zum Beispiel. Der ist einfach, kann aber auch komplex. Wie zeigt man das? Man nehme die RUTZ-Crew und setze sie um ein Lagerfeuer. Dann reiche man ihnen Spitzkohlköpfe an und lasse sie diese ins Feuer werfen. Man wartet nun ab. Sobald der Kohl verbrannt ist, lässt man die RUTZies einen Gang daraus basteln. Der geht dann so: Aus den gebräunten Blättern wird ein Lack, mit dem das Kohl-Herz mariniert wird. Die verbleibenden Blätter werden entsaftet und mit gerösteter Hefe schaumig aufgeschlagen. Auf den hauchdünnen Blättchen des frischen Kohls thront eine eingelegte Kohlblüte aus dem letzten Sommer.

Staccatoartig jagen uns die Gänge durch den Abend. Getränkewartin Nancy Großmann leistet derweil aktive Lebenshilfe, indem sie unnachgiebig Flüssiges an den Tisch schafft; meinen Teller säumen mittlerweile 5 Gläser mit alkoholfreier Getränkebegleitung. Ins sensorische Gedächtnis brennt sich der krachend chlorophyllige Apfelsaft, der aus den zwei alten Apfelsorten Topaz und Elstar selbst gebastelt, zwei Tage mit Estragon aromatisiert und schließlich mit Weizengraspulver aufgemixt wurde. Außergewöhnlich!

Das Tempo drosselt gegen Ende etwas. Das ist gut, denn der folgende Sorbet-Gang verlangt uns Einiges ab. Virtuos wird hier die Keramikschüssel im gefrorenen Wasser präsentiert. Hier und da ragt ein Ästchen aus dem Eis. Darin allem Anschein nach ein unaufgeregtes Häufchen Sorbet, das beinahe kulinarischen Nullwert erwarten lässt. Kannst du dir nicht ausdenken, dass die RUTZies mit diesem Gang auf dem Scheitelpunkt zur Überforderung surfen. Erst kommt die Ostsee und hinter den Dünen die Nadelwälder: Ein Eis-Crush aus Fichtennadeln drückt sich klirrend kalt gegen den Gaumen und dann verhält es sich mit dem Geschmeck wie man es sonst nur von einem Stück Seife kennt: wenn man denkt, man hätte sie, flutscht sie einem wieder aus den Händen. Da ist die zarte Säure der unreifen grünen Erdbeere, die in Wacholder und Meerwasser eingelegt wurde. Darüber luftgetrocknete Austern, die fein gehobelt über’s Sorbet gestreut wurden. Erst kalt, dann sauer, dann Salz. Schließlich denkt man: „Ach, so ist der gemeint!“. Plötzlich entsteht zarte Süße, mit der keine*r rechnet und irgendwoher schleicht sich eine Austerncreme zusammen mit einer verrückten Algenart ein, die ein spannendes Textur - und Aromenspiel entstehen lässt. Wie machen die das? Und man wird es nicht herausbekommen. Das ist hart für geübte Esser*innen. Aber so ist es mit der Kunst. Manchmal lebt ihre Ästhetik von der Unverstandenheit. Wäre er kein Koch, wäre Marco Müller ein Maler geworden, dessen Bilder nur wenige Intellektuelle verstehen würden oder ein Musiker, dessen Songs zu nerdig für den Helene-Fischer-Mainstream sind. Meine Etiquette bekommt jedenfalls langsam Schlagseite. „Gut, dass ihr das in so engen Schüsseln serviert, sonst wäre ich mit dem Kopf direkt rein.“ „Mach’s doch einfach mal!“ schlägt Falco Mühlichen vor. Daraufhin folgt die Anekdote eines bekannten Berliner Rappers, der bei diesem Gang aufrecht sitzend den Teller-Ableck-Move gebracht hat. Memo an mich: Wenn ich mal berühmte Berliner Rapperin sein werde, tue ich es ihm gleich.

Der offene Küchenpass gestattet Einblicke in das konzentrierte Treiben in der Küche und erlaubt mitunter sogar einen kurzen Plausch: „Und? Was machst du hier so?“ Marco: „Ich mach‘ dir dein Essen!“. Das bringt er dann auch persönlich an den Tisch: Ein entgegenkommendes Dessert nach 7 Gängen. Die alte Kulturapfelsorte Elstar als marinierte Stückchen, als Sorbet und als Mousse, dazu roh ausgebackene Topinambur-Schale, in der Koji-Eiscreme versteckt ist. Ein ausgesprochen fairer Abschluss - mit Tiefe, aber nicht unnötig süß. Unerbittliche Überdurchschnittlichkeit bis zum letzten Gang!

Der Leib bildet über dem Hosenbund mittlerweile dreifach gestaffelte Falten. Ich google heimlich unter dem Tisch „RUTZ, 8 Gänge, Bauchdeckendurchbruch“. In dem Moment kommt Falco vorbei. Es gibt nur einen Ausweg. Ich raune ihm zu: „Herr Mühlichen, ich möchte mich betrinken!“. Darauf eilt er hurtig davon und kehrt dem Leben zugewandt mit einer Flasche Palѐnt zurück: Ein Genepilikör aus den Westalpen aus ähriger Edelraute (Artemisia Genepi) - eine Verwandte von Wermut und Beifuss - das kann nur lustig werden! Mühlichen entkorkt das Leben für mich: Die Abrisskante im Glas kündigt die ölige Konsistenz an, die mir zusammen mit der Likörsüße den Mundraum windelweich schlagen wird, zwar grazil, aber mit Kräuter-Wumms und Nachhall. Ich bin außer mir und überlege, wie sich die Flasche am besten aus dem Etablissement schmuggeln lässt. Die beiden gutaussehenden Herren an meinem Tisch, die ich nicht nur mitgebracht habe, weil sie herzensgute Freunde, sondern vor allem trinkfest sind, treibt die Schicksalsergebenheit, mit der man sich an so einem Abend der RUTZ-Family anvertraut, ebenfalls in die Flasche. Obstbrand für sie, noch einen Palѐnt für mich. Wir beschließen „Wir bleiben!“ und fragen nach Schlafsäcken und Matratzen. Falco meint, im Sommer ginge das besser auf der Terrasse. Wir kommen also wieder. Im Sommer. Für heute schaukeln wir erst einmal gut angezündet und in einem Zustand seeliger Bedürfnislosigkeit aus dem RUTZ.

 

Reservierung eindringlich befohlen!

 

Geschmackssinniges, Februar 2019

 

Rutz

Chausseestraße 8

10115 Berlin-Mitte

https://www.rutz-restaurant.de/

 

Inspirationsmenü by Marco Müller:

 

6 Erlebnisse inklusive Wasser 159 Euro

8 Erlebnisse inklusive Wasser 198 Euro

 

Mein Besuch wurde vom RUTZ unterstützt. Dankeschön an Kerstin Pietsch und die RUTZ-Crew.

 

Ein kulinarisches 5-Gestirn lädt zur Völlerei-Grenzerfahrung - Ein Abend bei den Culinary Ladies (Eat! Berlin - Das Feinschmeckerfestival)

 

 

Im Rahmen des Eat! Berlin - Feinschmeckerfestivals fuhr Charisma-Bombe Stephanie Bräuer ihr kulinarisches 5-Gestirn im damengeführten (Iris Baugatz) Hotel am Steinplatz auf. Madame Bräuer, die an diesem Abend die souveränste Merch-Kapuzenjackenträgerin war, bot einigen ihrer Culinary Ladies, die es  sich ansonsten auf ihrer verfolgenswerten Website gemütlich machen, die gehörige Bühne. Genussverantwortlichste war die (bis dahin) jüngste Sterneköchin Deutschlands: Julia Komp (denn 2 Tage später ging der Titel nach Veröffentlichung des neuen Guide Michelin 2019 an Maike Menzel). 3 Gänge sollte sie auf dem diesjährigen Feinschmecker*innenfestival kochen. Wenn Julia allerdings ihre Weltreise unterbricht und sich 16h in den Flieger setzt, um bei den Culinary Ladies zu kochen, dann „gibt es auch was zu essen“. So wurden aus angedachten 3 gefühlte 75 Gänge und entsprechend viele Weine. Die gab es zusammen mit unterhaltsamen Geschichten von VDP.Winzerin Regina Stigler. Gerahmt wurde das Menü vom Handgeschick der sympathischen Zuckerbäckerin Marie Simon, die neben Broten wie der „Hanfkruste“ oder ihren Petit Fours „Maries Lieblinge“ nicht nur Kniefallabsichten bei den Gästen auslöste, sondern ihrer Freundin Julia auch noch den ganzen Tag in der Küche half. Die Gewürze, die dort Verwendung fanden, kamen von Nathalie Pernstich, die im „Babette’s – Spice and Books for Cooks“ in Wien Kochlustigen aufregend Fermentiertes dealt. Als man sich nach Maries überdimensionierter Schokomurmel aus arabischem Kaffee, Kardamom und Rose  der Völlegefühl-Grenzerfahrung näherte, legte Karen Schröder-Berg schippentechnisch dann auch noch Camembert und Roquefort aus ihrem Käse-Zufluchtsort Giovanni’s Deli drauf.

 

Als Highlights an diesem Abend wurden im Tischkonsens beschlossen:

 

Die Oktopusterrine, die Julia mit ausbalancierten arabischen Aromen und Kichererbse auf weltläufiges Niveau gehoben und die mich als Mollusken-Skeptikerin vollends überzeugt hat.

 

Das Sylter Salzwiesenlamm und seine imposant frittierten Kartoffelkringel ließen ebenfalls weltreiseinspirierte Zugangsweisen erahnen und wurden mit arabischen Baba Ganouche, Chana Dal und persischer Limone theaterhaft inszeniert.

 

Und schließlich das erfrischende Pre-Dessert aus Kokos, Thaibasilikum und Pomelo, der großformatigen Cousine der Grapefruit. Man verbündete sich unverzüglich mit wildfremden Mitsitzenden zum kollektiven Verschwindenlassen der leeren Teller, um anschließend geschlossen und überzeugt zu behaupten, man habe noch keinen bekommen. Schuld an der mutigen Gemeinschaftsgeste war eventuell der Dessertwein von Frau Stigler, die schon zuvor ankündigte, man könne ihn „wie a Säftle“ trinken. Nie wieder Saft! Nur noch Winklerberg Riesling Auslese von 2013! Ein Abend so rund wie der Abgang (Ja ja, 5 Euro ins Phrasen-Schwein, ich weiß. Ich konnte nicht anders).

 

 

Genießer*innen, (ver)folgen Sie diese(n) Frauen!

 

 

Culinary-Ladies - Möglichmacherin Stephanie Bräuer: https://www.culinary-ladies.de/

 

 

Himmelskörper - Köchin und Weltreisende Julia Komp: https://www.juliakomp.de/

 

 

High-End-Winzerin und Geschichtenerzählerin Regina Stigler: https://www.weingut-stigler.de/andreas-und-regina/

 

 

Zuckerbäckerin und Julias Partnerin in Crime Marie Simon: https://marie-simon.de/

 

 

Gewürz – und Kochbuch-Dealerin Nathalie Pernstich: https://babettes.com/

 

 

Feinkost – und Käse-Flüsterin Karen Schröder-Berg: http://galeria.giovannis-deli.de/

 

 

Worüber Julia Komp und ich noch so gequasselt haben, lesen Weltgewandte unter Fragegespräche .

 

Geschmackssinniges, Februar 2018

 

Mein Besuch bei den Culinary Ladies wurde von Eat ! Berlin - Das Feinschmeckerfestival unterstützt. Dankeschön an Manuela Hutzler.

 

 

Mittagspause bei Tim Raue – beim Hauptgang hat mich das Schwein!

 

 

Restaurant Tim Raue (Berlin-Kreuzberg)

 

Irgendwas ist ja immer. Mittagspause zum Beispiel. Und da könnte man lässig bei Tim Raue auf’m Klo chillen. Da ist es verdächtigerweise genau so hübsch wie im Gastraum seines Restaurants, in dem man sich in der Nähe des historischen Checkpoint Charlie schon mittags 2-sternig beköcheln lassen kann.

Das gefräßige kleine Ding hatte sich jedenfalls rotzfrech einen Martini Bianco zum Lunch bestellt. Der klönte in Mittagspausenmanie(r) mit dem ersten Gang wie ich mit meinen nüchternen Begleitdamen. Als ausgesprochene Petersilienwurzelfreundin erfreute mich die Küche mit ebensolcher, die zusammen mit geeister Yuzu-Limonade serviert wurde. Wer geschmackstechnisch mal über diese intensiv-komplexe asiatische Zitrusfrucht gestolpert ist, weiß, warum sie schlicht die coolere Schwester der Zitrone ist.

Morgens noch hatte ich: „Guck‘ mal, habe ich gebacken, ist vegan!“ an Mutti geschrieben. Diese Nachricht verschwamm vor dem inneren Auge nun etwas wegen der Krokodilsträne, die mir die Sauerei im Rahmen des Hauptgangs in die Guckschlitze trieb. Jetzt hat er mich, der Raue. Die große Gemüseversteherin erliegt dem Schwein. Das kommt nämlich als Hauptgang in Form von knusprig ausgebackenem Spanferkel, das es sich hochglanzlackiert mit Papaya und süß-saurer Soße auf meinem Teller gemütlich gemacht hat. Während Tim Raue in den Hauptgängen auf die sichere Bank mit traditioneller chinesischer Geschmackslinie setzt, rastet er im Dessert unorthodox aus. Der Apfel wurde in Apfel-Form ausgestochen, was Punkte in der Kategorie Niedlichkeitsfaktor holt. Die Pink Lady badet im Stachelbeer-Sud, während sich die Ganache aus weißer Kokos-Schokolade ans Wasabi-Gel kuschelt. Ausgeklügelt, Herr Raue! Definitiv mein Highlight in dieser Mittagspause. Die ist nach knappen 3 Stunden vorbei und man verlässt den Zwei-Sterner nach 4 markerschütternden Gängen und mit fair ausgepreisten 88 Eurotalern weniger im Portmonee sehr zufrieden.

 

Geschmackssinniges, Februar 2019

 

Restaurant Tim Raue

Rudi-Dutschke-Straße 26

10969 Berlin

 

https://tim-raue.com/

 

Lunch: Freitag & Samstag

 

4-Gang-Menü 88,00 € 

5-Gang-Menü 103,00 €

6-Gang-Menü 118,00 €

7-Gang-Menü 133,00 €

8-Gang-Menü 148,00 € 

 

 

Von Produktfetischismus, alkoholfreier Kunst und Kirmes-Techno

 

 

 

Golvet (Berlin-Tiergarten)

 

Bei der Online-Buchung des Tisches lässt es einen unterwürfig die Hacken zusammenknallen, als darauf hingewiesen wird, dass die Reservierung mit Kreditkarte vorzunehmen ist und bei Absage nach 15Uhr des jeweiligen Tages 80 Euro in Rechnung gestellt werden. Phew. Da geht wohl jemensch extra für mich einkaufen und wäre hochgradig erbost, wenn Produkte dann nicht abgerufen würden. Das legt die Erwartungslatte hoch. Okay, let’s go!

Zum Aperitif auf die Dachterrasse. Das ist schon einmal eine ziemliche Ansage. Der Blick über Berlins Skyline würde selbst über eine Portion „Pommes Rot-Weiß“ als Hauptgang hinwegtäuschen. Von hier hat man die Nationalgalerie, die Philharmonie und den Potsdamer Platz fest im Blick. Den What-a-view-Wow-Moment gerade hinter mir gelassen, zwingt mich nun die schaumig-cremige Karamellbutter mit Schnittlauch zum Landbrot in die Knie. Dieser Starter gehört unangefochten zu jenen Besonderheiten eines Fine-Dining-Abends, die einem noch Wochen danach im sensorischen Gedächtnis bleiben. Der Gruß aus der Küche lässt die kulinarische Handschrift des Golvet erkennen: stets ein Hauch asiatischer Einflüsse, die in verschiedenen Kombinationen überraschen. Serviert wird ein frischer Salat aus Zuckerschoten, Algen, Physalis und gepufftem Buchweizen. Sehr erfrischend!

Als ersten Gang: die Carabinero. Die geflammte Riesengarnele präsentiert sich sympathisch auf geschäumtem Ingwer Gurken-Jogurt, dazu Rübchen vom Kürbis und von der Zuckermelone. Beide unterstützen treffsicher den intensiven Geschmack der Gamba-Königin. Die Raffinesse dieses Gangs besteht zweifelsohne in der Kombination mit der ursprünglich aus Nordafrika stammenden Würzpaste Harissa aus verschiedenen Chilisorten, Cayennepfeffer und Kreuzkümmel, die hier elegant als Eis inszeniert wird und den Gang eindrucksvoll abrundet. Die Kellner announcieren jeden Gang leidenschaftlich und ohne Hektik (ich mag Vorfreude!) und beantworten geduldig meine leidigen Foodie-Fragen. Worauf ich mich im Golvet besonders gefreut hatte, war das Angebot einer alkoholfreien Getränkebegleitung. Ein Trend, der mich nicht nur in Bezug auf handwerklich-kompositorische Gestaltungsräume interessiert, sondern es ist schlichtweg zweckdienlich, dass sich mit der Null-Prozent-Menübegleitung auch noch die geschmackliche Dimension des Desserts uneingeschränkt wahrnehmen lässt. Ich will genau wissen, wie das mit dem Kefir geht! Haben meine heimischen Wasserkefirkreationen doch meist wie schale, leicht angegorene Obstsäfte geschmeckt, trifft Getränkewart Benjamin Becker mit seiner Kreation hier den perfekten Säuregrad. 3-4 Tage lässt er den Wasserkefir zusammen mit Aprikosen und Zucker reifen, um dem intensiven ersten Gang mit seiner zurückhaltenden Kefir-Interpretation zu schmeicheln.

Zum zweiten Gang folgt Geeistes und Gegrilltes von der Aubergine. Hier hat jemensch die Wertschätzung eines Produkts und dessen handwerkliche Verlängerung verstanden. Der Ziegenmilchtaler mit Amaranth ist eine solide Basis, die man abwechselnd mit dem hauchzarten Gel der Rauchtomate oder dem Eis von der Spitzpaprika pimpen kann. Die Würze der Kapuzinerkresse verliert sich allerdings etwas hinter der Milde der gestockten Ziegenmilch und der knallenden Fruchtigkeit des Paprikaeises. Für die Säure eine Johannisbeere oder ein Schluck vom Ipanema auf Grapefruitbasis. Zur Grapefruit gesellt sich bei diesem alkoholfreien Drink ein Melonensirup, der mit Gentleman’s Limonade aufgegossen und schwarzem Pfeffer komplettiert wird. Lecker!

Chefkoch Björn Swanson überrascht mich vor dem Dessert mit einem kräftigigen Sud aus grünem Apfel, Zitronensorbet, Kapern, Sellerie und dazu Panacotta aus Petersilienwurzel und weißer Schokolade. Für einen Gastgeber, der sich tendenziell eher pragmatisch und auf das Produkt fokussiert gibt, ist das ein ziemlich ausgeklügeltes Pre-Dessert: Ich habe keine weiteren Fragen.

Das Dessert kommt dann wieder solide und blank daher: Dreierlei vom Pfirsich – geschmort, mariniert und als Sorbet, dazu klassisch weiße Schokolade und Pistazien. Alles angerichtet auf einem sanften japanischen Calpico-Sud - da ist es wieder das gewisse fernöstliche Detail - , der Genusssüchtige in ein gedankliches Dilemma drängelt, das sich irgendwo zwischen Ablecken des Tellers oder frechem Betteln nach einer weiteren Portion tummelt. Ich bin satt und sehr zufrieden.

Einziger kosmetischer Makel: der etwas zu laute Kirmes-Techno zum Geschmackstheater. Etwas zu schnell und zu viel Bumm-Bumm für ein Dinner, aber das ist wohl dem hippen achtstöckigen Rooftop-Standort geschuldet. Das Petite Four tröstet über das ausgedellte Trommelfell hinweg und kommt in Form von erfrischendem Kirschsorbet, Mandel-Espuma, krachendem Mandelcrunch und eingelegten Kirschen daher. Ein vitalisierender Rausschmiss.

Jetzt noch ein obligatorischer Toilettengang, der eher an einen Galeriebesuch als an einen Ort bloßer Notdurft erinnert. Während das Interieur im Golvet nämlich vorherrschend puristisch und klar gehalten ist, werden die Räumlichkeiten erst durch eine Liasion mit verschiedenen Street-Art-Künstler*innen des Kunstprojekts THE HAUS richtig spannend. Nachdem sich die ursprüngliche, temporäre Ausstellung in den Räumen einer alten Bank in Charlottenburg im Sommer 2017 durch den Abriss pulverisiert hatte, erhielten die Akteur*innen künstlerische Zuflucht im Golvet und servieren ihre eindrucksvolle Straßenkunst nun also zur Kulinarik in der Potsdamer Straße.

 

Essen ist Kunst, Kunst is Essen.

 

Merci, Golvet. Ich komm‘ wieder. Bis dahin dreht ihr die Musik bisschen leiser, ne?!

 

Geschmackssinniges, September 2018

 

Golvet

Potsdamer Straße 58

10785 Berlin

 

https://golvet.de/

 

€€€ 3 Gänge ca. 115-150 Euro

 

Von Himbeerschnaps, Alternativ-Glamour und ostpreußischem Alltagsessen

 

 

The Grand (Berlin-Mitte)

 

Die unscheinbare Hirtenstraße liegt etwas lieblos im Schatten des Fernsehturms, gefangen im Würgegriff benachbarter Betonklötze, die in Abwesenheit von architektonischem Sinn für Stil hingepoltert wirken. Und dann ganz unaufdringlich: ein goldenes Schild, das auf das Lokal mit der französisch-deutschen Ausrichtung im Inneren verweist. „The Grand since 1842“ ist zu lesen und lässt traditionsreiche Küche erwarten. Was die Tradition der Innenausstattung betrifft, wollte man sich offenbar nicht so richtig entscheiden zwischen der reduzierten Fine-Dining Attitüde klassischer Restaurants mit gestärkten Stoffservietten und schlicht-elegantem Interieur, dem abgehipsterten Berlin-Mitte Shabby-Chic mit fleckig verputzten Wänden und Rohmauerstückchen und einem kuschelig-verschlafenem Mid-Century-Design mit blumig beschirmten, beliebig abgestellten (so scheint es) Stehlampen und geheimnisvoll angestaubten Genremalerei-Gemälden. Die Irritation nimmt an Hochgradigkeit zu, als ich vorbei an der kolossalen Rezeption aus dunklem Holz hinaus auf die Terrasse geleitet werde und sich ein Gemütlichkeitsidyll mit dekorativen Rankbögen und warm beleuchteten Pavillons eröffnet. Besonders sympathisch hier: die kanadische Zwergeiche, die mit sanfter Beharrlichkeit aus der Terrassenmitte durch die Großstadtarchitektur in den abendlichen Berliner Himmel wächst. Alles changiert ein wenig zwischen Angleichung und Entähnlichung, vielleicht das Klunkerkranich der gehobenen Gastronomie. Interieur, Atmosphäre und Stil entziehen sich meinem Verständnis der alltäglichen Ordnung. Der Druck von Berlin-Mitte. Irgendwie dabei sein wollen, aber anders und keinesfalls Mainstream. Ein Alternativ-Glamour, den zu rühmen man in der Hauptstadt mitunter etwas müde wird. Zügiges Geleit zum Tisch, bevor die Zuordnungen und Deutungen einsetzen, von denen man sich an solch einem Abend doch freimachen möchte. Ich werde mit einem kameradschaftlichen „Du“ begrüßt und rede mir ein, dass das ein Bekenntnis zu meiner jugendlich-frischen Ausstrahlung ist. An einem Freitagabend. Nach einer vollen Arbeitswoche. Schnell ein Aperitif. Und das können sie im The Grand: sommerlich-fruchtige Kompositionen, die sich über jedwede Gewöhnlichkeit erheben. Für mich eine unaufgeregte Variante aus weichem Himbeerschnaps, Dry Tonic und frischen, bissfesten Himbeeren. Intensiv, erfrischend und als Leckerli vor dem Essen schon fast etwas zu stark.

Nachdem bereits der Brotkorb mit gesalzener Butter begeistert hat - nach meiner Erfahrung stets Indikator für die kulinarische Lagebestimmung von Restaurants - schließt sich eine Vorspeise an, die nun auch Unordnung in meine geschmacklichen Koordinatensysteme bringt. Zögerlich wählte ich die Königsberger Klopse vom Wildkaninchen, denn meine Assoziationen mit Königsberger Klopsen sind irgendwo in einer Berliner Eckkneipe angesiedelt, in der Marianne* (*insert any weird German name) mich fürsorglich anbrüllt: „Mischjemüse kann ick Ihnen och noch ‘zu machen, wenn Se dit woll’n!“ und anschließend ihre kernige Hausmannskost neben der Fertigsoße kühn mit Erbsen und Möhren aus der Dose krönt. Diese gedankliche Verknüpfung wird umgehend ausgehebelt, als der Teller vor mir steht. Völlige Abwesenheit von Primitivität. Ein wuchtiges Konglomerat aus zarter Foie Gras, Püreetropfen von intensiver Kartoffel, roter Beete und grüner Erbse und den saftigen und perfekt gewürzten Bällchen. Dazu ein handwerklich perfektes Kokos-Schaumsößchen. Dieser klug komponierte Teller eröffnet eine überzeugende Küchenartistik, die mich lehrt, dass man ein Thema wie „ostpreußisches Alltagsessen“ durchaus neu interpretieren und zeitgemäß bespielen kann. Ich bin hysterisch begeistert.

Mein erster Eindruck beim Betreten des Lokals, nämlich die gezielte Abwehr von Eindeutigkeit, trägt sich als Leitmotiv auch durch das Essen. Noch vollends beseelt vom Feingeist der Vorspeise, bin ich vom Hauptgang ein wenig enttäuscht. Der Lachs ist auf den Punkt gegart, geschmacklich bleibt er allerdings etwas blass. Die krustige Haut macht zwar ein grandioses Mouth-Feeling, aber die zum Teil noch sichtbaren Salzbrocken erschlagen geschmacklich und überfordern einen an salzarme Kost gewöhnten Gaumen. Dazu grüne Bohnen. Hm. Und ein Rote-Beete-Risotto, das zwar wunderbar schlotzig, geschmacklich aber eher unauffällig ist. Die Safran-Sauce ist hierbei die einzige Komponente mit Knalleffekt. Ein etwas unordentlicher Teller, der nicht ganz zu Ende gedacht wirkt. Das Dessert wird den kulinarischen Eindruck wieder aufpolieren, derweil stört der Zigarrenqualm vom Nebentisch etwas, der sich unter den überdachten Bereichen der Terrasse nicht wirklich zergliedern kann. Der Habitus des Zigarrenrauchers: Man möchte hier irgendwie zum menschlichen Interieur dazu gehören, auch wenn man nur eine Grapefruitsaftschorle bestellt und dazu die dicke Zigarre vom Späti um die Ecke anzündet. Diese Signatur der Uneindeutigkeit zieht sich nicht nur durch die Gäste: hier ein sympathischer Fleck auf der Tischdecke, dort ein abgeblättertes Stück Holzfurnier am Pfefferstreuer und daneben wieder hochwertiges Mobiliar und professionell-freundlicher Service. Eine beruhigende Anmutung von Gelassenheit und irgendwie fühlt man sich gerade deshalb sehr aufgehoben. The Grand, ich komme wieder und lasse mich gern von euch durcheinander bringen, schon wegen der Desserts: ein warmes Schokoladenküchlein mit flüssigem Kern, vollaromatischen Früchten und einem Bourbon-Vanille Eis mit tadellosem Schmelz entlässt mich nach diesem Abendessen zufrieden lächelnd in die Nacht. Vielleicht lässt sich über den ernährungsphysiologischen Wert streiten, über Konsistenz und Aroma muss nur anerkennend genickt werden.

Auf die Nachfrage an mein Gegenüber, wie denn die Crema Catalana sei, antwortet zunächst ein abwesender Blick, der ungefähr eine Minute ankündigt, was unseren Besuch dann nach wiedererlangter Selbstbeherrschung rechtfertigt: „Mmmhhh, entschuldige, ich war kurz in Trance, glaube ich…!“.

 

Geschmackssinniges, Juni 2018

 

The Grand

Hirtenstrasse 4

10178 Berlin

 

https://www.the-grand-berlin.com/restaurant/

 

€€€ 3 Gänge ca. 80-130 Euro

 

 

Von roter Beete, kulinarischem Seemannsgarn und beinahe untergehenden Fähren

 


 

Der Butt (Hohe Düne)

 

Reflexartig ziehe ich mit konsequentem Unterdruck die Wangen ein und bemühe mich hohlwangig bedauernswert auszuschauen, als ich auf dem Gelände der Yachthafenresidenz Hohe Düne André Münch begegne, Chefkoch des Gourmetrestaurants Der Butt. Dorthin bin ich auf dem Weg und werde später die Hunger suggerierende Geste bereuen – ein 4-Gang-Menü bestellt, 10 Gänge genossen. Auf dem Rückweg in die Warnemünder Ferienwohnung werde ich ernsthaft Sorge haben, ob die Fähre - mit mir und den 10 Gängen an Bord - ihren Dienst solide absolvieren wird. Erinnerungssatt gehe ich auf dem Weg über die dunkle Ostsee die Gedächtnisbilder durch und in meinem Begeisterungstaumel entwickle ich die Idee zu diesem Blog. So viel Wertschätzung, so bemerkenswert handwerkliches Geschick, so kenntnisreich kreierte Kompositionen. Das muss doch mit der kulinarisch informierten Welt geteilt werden. Nun dann, präventiv den Knopf öffnen und tief in den Bauch lesen:

 

Ich komme in der obersten Etage des Restaurant-Pavillons direkt im Yachthafen an. Bereits an der Garderobe entsteht ein Eindruck heimischer Gemütlichkeit, als hätte Sternekoch André Münch ins eigene Wohnzimmer eingeladen. Wenige Tische, das Interieur ist elegant und geschmackvoll, nicht prätentiös. Schallgedämpfte Fenster lassen den wild tosenden Sturm draußen, eröffnen dennoch einen behaglichen Panoramablick auf die in abendliches Rot getauchte Ostsee. Wow! Ich werde mit sympathischer Gastlichkeit an einen kleinen Tisch direkt am Fenster geleitet; ein warmes feuchtes Handtuch für die Hände und mein Aperitif lassen nicht lange auf sich warten. Dazu bekannte Popsongs, die leise als Jazzvariante aus den Lautsprechern säuseln. Perfektes Sound-Drink-Pairing. Hier bleib‘ ich.

Ich entscheide mich für das vegetarische 4-Gang-Menü. Das Kombinieren mit Gängen der nicht-vegetarischen Variante ist selbstverständlich möglich. Der erste Gruß aus der Küche wird im maritimen Outfit serviert, ein Leitmotiv, das im Übrigen konsequent bis zum Toilettengang verfolgt wird. Über Lautsprecher wird man nämlich in der stilvoll ausgestatteten Toilette von Shanti-Chor und Matrosenliedern begleitet. Während des Händewaschens ertappe ich mich schmunzelnd beim Mitschunkeln. Zurück zur Kulinarik.

Vorspeise: Rote Beete. Damals bei den Großeltern, eingelegt, vor dem Fernseher, direkt aus dem Glas gabelnd. Der kleinkindgerechte Knabberspaß der zart beginnenden 90er-Jahre. Irgendwie lecker, aber vielleicht war dieser Eindruck auch nur verblendet von der großelterlichen Fürsorglichkeit. Nun also liegt sie wieder vor mir, die rote Beete, so richtig sexy ist sie nicht. Liebevoll kuratiert mit intensiver Gurke, Tapioka, geeistem Sauerrahm und Kresse zischt sie mir ungeduldig entgegen: „Iss‘ mich!“. Noch nie hatte ein Gemüse einen solch blanken Imperativ auf mich gerichtet. Dennoch, sie hatte Recht, diese kulinarisch kühn daherspazierte Beete, die mich mit ihrem feinsinnigem Aroma unmittelbar überzeugte. Ich schaue zur Familie am Nebentisch, die ebenfalls soeben ihre Vorspeise serviert bekamen: drei Buben, die etwas zerknirscht auf ihre Teller blicken. Einer verzieht heimlich das Gesicht und schaut zum Bruder. Ich glaube, sie wollen lieber einen Burger aus dem nächsten Fast-Food-Restaurant. Damit sich meine Lippen bei diesem Gedanken nicht allzu auffällig kräuseln und mir ein empörter Blick in Richtung der Augenverdreher entgleitet, atme ich kurz durch und denke in einem Anflug pädagogischer Permissivität: „Hm, in eurem Alter hieß mein Lieblingsessen „Kartoffelbrei mit Röstzwiebeln und Croutons“ aus einer Fünf-Minuten-Terrine. Ich lächle besonnen… und folgere, dass alle Großeltern haben sollten, die ihnen rote Beete aus dem Glas in der Kindheit servieren.

Zufrieden lächelnd erfreue ich mich noch an der Vollmundigkeit dieser kreativen Vorspeise, als ich schon mit Brioche, Butter und australischem Flusssalz sowie dem zweiten Gruß aus der Küche versorgt werde. Langsam beschleicht mich das Gefühl, es könnte sich im Laufe des Abends ein Kapazitätsproblem einstellen. Egal, live a little…oder eher live a little more. Weiter geht’s mit dem Zwischengang. Schon allein die Farbe überfordert meine Synapsen. Eine herzhafter Gemüse-Sud, der mich direkt aus der Kurve trägt, und dazu Tomate und Paprika, die ein so dichtes Umami-Feuerwerk abfeuern, dass ich rausstürmen, eine Runde über die Anlage rennen und alle Leute über die wahre Identität von Tomate und Paprika aufklären möchte. Ich bin beeindruckt und das bin ich auch vom Hauptgang. Ich lerne, dass ein Onsen-Ei seit Jahrhunderten von den Japaner*innen in den heißen Quellen des gleichnamigen Flusses gegart wird. Dabei verbleibt das Ei mindestens eine Stunde in der Thermalquelle. Das langsame Stocken bei ca. 62 Grad geschieht haarscharf unter der thermischen Gerinnungsgrenze für Hühnereiweiß und bekommt erst dadurch eine besonders zarte Struktur. Dazu eine geschäumte Hollandaise, Püree aus Erbsen, geschmacksintensive Kirschtropfen und eindringlich aromatischer Spargel. Kompositorisch und optisch eine überzeugende Geschmacksverbindung. Ich bin kurz vor dem kulinarischen Delirium, verwerfe diesen Gedanken allerdings sofort, als das Dessert kommt: Valrhona-Schokolade und Kirsche - einmal als warmes Sößchen und überdies als Sorbet-Variante. Jetzt bin ich im kulinarischen Delirium. Dass ich auch die zwei noch folgenden Grüße aus der Küche vom Eis bis zu den selbstgemachten Pralinen verspeise, glaube ich mir anschließend selbst nicht. Dekadent?Definitiv! Aber das mit einer Warmherzigkeit, die mich zum Abschied alle Mitarbeitenden - vom sympathischen Service-Personal bis zum Küchenchef - umarmen lassen möchte. „Im Sommer komme ich wieder!“ denke ich am nächsten Tag, nehme das Telefon in die Hand und reserviere einen Tisch…

 

Geschmackssinniges, April 2018

 

Der Butt

 

Am Yachthafen 1

18119

Rostock-Warnemünde

0381 / 50 400

 

https://www.hohe-duene.de/hotel ostsee/restaurant/gourmetrestaurant-der-butt.html

 

€€€ 4-Gang-Menü 119,00 Euro




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